Unterdessen war bei BMW Geld in die Entwicklung einer neuen Modellvariante geflossen, denn unter dem Namen »Touring« war eine coupéhafte Schrägheckversion der zweitürigen 02er-Modelle entwickelt worden. Schon ab Frühjahr 1971 standen die Modelle Touring 1600, Touring 1800, Touring 2000 und Touring 2000 tii in den Schauräumen. Das Modell 1502 und auch der später präsentierte 2002 turbo waren jedoch nicht als Schrägheckvarianten erhältlich – aus guten Gründen: Beim kostengünstigen Einstiegsmodell 1502 wäre der Kaufpreis zu sehr nach oben getrieben worden; beim 2002 turbo hätte die Schrägheckvariante das aggressive Sportwagenimage verwässert. Zwar bot diese Schrägheckvariante bei umgeklappter Rücksitzbank erheblich mehr Laderaum als die 02er-Limousine mit Stufenheck, doch schnell zeigte sich, dass die Kunden für die neue Modellvariante nicht zu begeistern waren.
Geld benötigte BMW auch für eine ganz neue Entwicklung, die vom Gesetzgeber eingefordert wurde: das Sicherheitsauto. Anlass für die Entwicklung dieses Versuchsfahrzeugs waren in den USA erlassene Vorschriften, nach denen alle Modelle für den US-Markt zukünftig mit einer Fülle von Sicherheitsvorrichtungen und -systemen ausgerüstet sein mussten. Diese Systeme umfassten beispielsweise üppige Prallpolster, neuartige Stoßfänger vorne und hinten sowie ein Rückhaltesystem durch Gurte für jeden Sitz. Ziel des US-Verkehrsministeriums war, das Überleben der Fahrzeuginsassen bis zu einem Aufprall von 80 km/h zu gewährleisten. Bei diesem zeit- und geldaufwändigen Unterfangen wollte BMW mit Mercedes-Benz kooperieren, um die Entwicklungskosten klein zu halten.
Gleichzeitig war dieses Kooperationsvorhaben ein Indiz dafür, wie wenig eine Zusammenarbeit mit VW in Betracht gezogen wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass zwischen den Führungsetagen in München und Wolfsburg offene Abneigung herrschte, kam eine Zusammenarbeit aufgrund der finanziellen Situation von Volkswagen nicht infrage. Denn VW stand vor dem finanziellen Ruin – es rächte sich die über Jahre gepflegte Monokultur von Fahrzeugen mit Luftkühlung und Heckmotor. Die Absatzkrise in den USA, dem wichtigsten Auslandsmarkt von VW, verschärfte die Situation zusätzlich.
Beginn einer neuen Ära in München
Während VW im Herbst 1971 ums Überleben kämpfte und der in Kollegenkreisen unbeliebte Vorstandsvorsitzende Kurt Lotz zum 1. Oktober 1971 durch Rudolf Leiding ersetzt worden war, sammelten unterdessen bei BMW die Prototypen der neuen Mittelklasse eifrig Testkilometer. Die Nachfolger sollten laut Gerüchten BMW 2004/2006 heißen, was darauf schließen ließ, dass sie mit Vier- und Sechszylindermotor auf den Markt kommen würden.
Darüber hinaus gelangte Herbert Quandt zu der Einsicht, dass BMW einen neuen, moderneren Kurs einschlagen musste. BMW sollte dazu klarer strukturiert werden, auch wenn dies die Spielräume von verdienten Mitarbeitern wie Vertriebschef Paul Hahnemann, Produktionsvorstand Wilhelm Gieschen oder Entwicklungschef Bernhard Osswald einengte. BMW sollte wachsen, und dazu war statt Kreativität und Improvisation zukünftig eine straffe Führung und Organisation vonnöten.
Die Krise im BMW-Vorstand spitzte sich bis Herbst 1971 weiter zu und Hahnemanns Position wurde dabei schwächer. Nicht zuletzt waren zahlreiche Unregelmäßigkeiten bei der Auftragsvergabe ans Licht gekommen, durch die sich Hahnemann seit Jahren systematisch bereichert hatte. Schließlich zog Eberhard von Kuenheim die Konsequenzen und stellte Herbert Quandt vor die Wahl, ob er Hahnemann behalten wolle oder ihn. Der Aufsichtsratsvorsitzende Hermann Karoli, der bei dem Gespräch zwischen Herbert Quandt und Eberhard von Kuenheim zugegen war, teilte Paul Hahnemann dann bei seiner Ankunft mit, dass seine Laufbahn bei BMW beendet sei. Ohne nochmals mit Herbert Quandt geredet zu haben, erklärte Hahnemann seinen Rücktritt.{26}
Diese Nachricht des mehr oder minder unverhohlenen Rausschmisses von Hahnemann schlug hohe Wellen – nicht nur in Bayern. Aus München war zum Abgang Hahnemanns von einem BMW-Manager zu hören: »Das war ein gewaltiger Fehler. Den ersetzt dort keiner.« Auch die Wettbewerber jubelten, ein Daimler-Benz-Manager frohlockte beispielsweise: »Der Sturz von Hahnemann hat bei der gesamten Konkurrenz Freude ausgelöst, weil der beste Mann weg ist.«{27} Offensichtlich aber war dabei auch geworden, dass Hahnemann den bedächtigen und schwach wirkenden Eberhard von Kuenheim unterschätzt hatte.
Nachfolger Hahnemanns wurde zur Jahreswende 1971/1972 ein junger Manager aus den USA, der erst 39-jährige Opel-Verkaufsleiter Robert (»Bob«) Lutz. Statt seine deutlich vorgezeichnete Karriere bei Opel beziehungsweise GM voranzutreiben, wechselte der ehemalige Kampfjetpilot der US Marines von Rüsselsheim nach München. Herbert Quandt ging bei seiner Verjüngung des Vorstands noch weiter, auch der 63-jährige Produktionschef Wilhelm Gieschen wurde durch den 41 Jahre alten Techniker Hans Koch ersetzt.
Bob Lutz schrieb zur psychologischen Wirkung des Rauswurfs Hahnemanns auf den Vorstand: »Die BMW-Spitze aber hatte eines verstanden: Man durfte sich vom Dauerlächeln, vom jungenhaften Auftreten, von der leisen Stimme und der kultivierten Sprache des jungen Freiherrn nicht täuschen lassen. Er war gerissen und knallhart.«{28}
Wie aus gut informierten Kreisen verlautete, war Lutz nicht zuletzt nach München gekommen, weil ihm Herbert Quandt genau das doppelte Gehalt von Hahnemann geboten hatte. Mit Bob Lutz war nun ein Manager für den Vertrieb verantwortlich, der weniger wie Hahnemann gefühlsgeleitet arbeitete, sondern planvoll und wissenschaftlich unterfüttert. Die zukünftige Aufgabe für Bob Lutz war klar umrissen: Die Fahrzeuge von BMW mussten ihr hohes Image beibehalten, um die überdurchschnittlichen Kaufpreise zu rechtfertigen. Nur so konnte BMW als kleiner Hersteller auf Dauer selbstständig bleiben. Gleichzeitig musste die Baukastenstrategie strikt umgesetzt werden, um die Produktionskosten nicht ausufern zu lassen.
Im Laufe des Jahre 1972 konkretisierten sich die Daten und Fakten zur neuen Automobilgeneration der Mittelklasse. Allerdings sollte die neue Baureihe mitnichten die Modelle der »Neuen Klasse« nur ersetzen, vielmehr sprach Eberhard von Kuenheim davon, die neue Baureihe eine Klasse höher anzusiedeln. Damit stünden sie in der Oberen Mittelklasse über den etablierten Modellen der »Neuen Klasse« und unterhalb der großen Modelle mit Sechszylindermotor.
Die Vorstellung der neuen Modellreihe (E12) erfolgte nach den Olympischen Spielen, die 1972 in München stattfanden. Bei der Namensgebung hatte sich Bob Lutz durchgesetzt und die Baureihe als 5er-Reihe tituliert. Diese Rückbesinnung auf alte Typbezeichnungen wurde teils kritisch gesehen, denn noch zu gut war in Erinnerung, dass BMW 1960 mit Modellen der damaligen 5er-Reihe (501/502, 503, 507) fast in den Ruin gefahren war. Viele der Kritiker waren jedoch versöhnt, als die Fahrzeuge der neuen Generation schließlich präsentiert wurden. Kurzum: Die »Neue Klasse« hatte eine würdige Nachfolgergeneration erhalten.
Der neue BMW 520 war als viertürige Limousine konzipiert und sofort als typischer Markenvertreter erkenntlich, denn die Gestalter waren der Designlinie der »Neuen Klasse« gefolgt. Bei den stilistischen Vorarbeiten war nichts dem Zufall überlassen worden. Demgemäß hatten bereits 1970 Pietro Frua und Nuccio Bertone ihre 1:1-Modelle nach München geschickt, wo sie mit den hauseigenen Modellen der Münchner Designabteilung verglichen wurden.
Verantwortlich für die finale Formgebung des 5ers war schließlich der BMW-Chefdesigner Paul Bracq, der 1970 die Nachfolge von Wilhelm Hofmeister angetreten hatte und dessen Designlinie nahtlos fortsetzte.{29} Ein durchaus würdiger Nachfolger für Wilhelm Hofmeister, denn Paul Bracq hatte zuvor zehn Jahre als Chefdesigner bei Mercedes-Benz gearbeitet. Wenn Paul Bracq auch die Designlinie von Wilhelm Hofmeister äußerlich fortführte, so setzte er im Innenraum allerdings seine eigenen Vorstellungen um.
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