Sie hatte keine Lust, über Steve zu sprechen.
»Willst du mir davon erzählen?«
Nö, wollte Susan nicht. Trotzig schüttelte sie den Kopf. Wegen ihm war sie nicht hier.
»Er ist ok. Aber im Grunde nicht mein Typ. Irgendwie nicht so – männlich. Nett. Normalo halt. Ok, wir gehen am Donnerstag Quad fahren. Brigid und Holger kommen mit. Also einfach ein Ausflug eben.«
Sie hatte die Fäuste in die Taschen ihrer weiten Bluse gedrückt. Romantiklook. Die Rüschen und Knitterfalten betonten und versteckten ihre Weiblichkeit gleichzeitig. Hinter so viel Stoff fühlte sie sich momentan einigermaßen wohl in ihrem Körper.
»Vielleicht erzählst du mir ja das nächste Mal, wie es war. Ich wünsch’ dir jedenfalls einen tollen Tag und einen schönen Ausflug.«
Sie legte den Block und den Stift auf ihre Oberschenkel und sah Susan ernster an. Sie wollte nicht darüber reden? Auch gut. Dass es ›einfach ein Ausflug‹ wäre, glaubte sie ihr allerdings nicht. Dass ihre Freundin und ein Mann, den sie gut kannte, mitkamen, fand sie eine hilfreiche Konstellation. Ansonsten hätte sie Susan abgeraten.
»Und was machen wir heute? Über was möchtest du in dieser Stunde sprechen?«
Susan begann ihre Fäuste zu kneten, obwohl die in den Seitentaschen ihrer Bluse steckten. Sie hasste diese Frage, die Eva in jeder Stunde an den Anfang stellte. Jeder verdammten, verschissenen Therapiestunde.
Das Oberteil verzog sich, bis die Schulternähte unter allerhöchster Spannung standen.
Sie wusste nicht, über was sie sprechen wollte. In Wahrheit wollte sie gar nicht sprechen, sich nicht erinnern, nichts analysieren. Ruhe wollte sie. Stille in ihrem Kopf. Nicht immer wieder die Schreie hören müssen, von denen sie inzwischen wusste, dass es ihre Eigenen waren.
»Ich hatte dich in Hypnose bis zu den Männern geführt und du hast sie dir angesehen.«
Eva erinnerte sich gut an diesen Durchbruch. Susan hatte das erste mal eigene Ideen entwickelt, ihren Angreifern die Macht über sich zu entreißen.
Susan saß, äußerlich unbeteiligt, in dem breiten Sessel. Mit den ganzen Kissen um sie herum kam sie Eva wie ein Vogel in seinem Nest vor. Ein eben geschlüpftes winziges Vögelchen. Extrem zerbrechlich.
»Wenn du willst, können wir dort weiter machen.«
Da ihr nichts Besseres einfiel, nickte Susan ihrer Therapeutin, wenn auch zwiegespalten, zu. What else?
»Ok, du kennst das ja. Willst du in dem Sessel bleiben? Gut, dann streck’ doch wenigstens die Füße ein bisschen aus. Mach es dir so bequem wie möglich. Wir können aber auch auf das Sofa gehen.«
Susan schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte in ihrem Kissenberg stecken bleiben. Das Sofa mochte sie nicht. Das war kalt und leer und stand irgendwie blöd im Raum herum. Ihr war schon nicht recht, dass sie ihre Schneidersitz- Halbbuddha-Haltung für die Tiefenentspannung aufgeben sollte.
»Wenn du bereit bist, können wir anfangen. Gut? Vertraue mir und deinem Unterbewusstsein. Ich führe dich hinein und führe dich auch wieder zurück. Dein Unterbewusstsein zeigt dir nur so viel, wie du bereit bist, zu ertragen. Vertraue darauf. Entspanne dich im ganzen Körper. Versuch so viel loszulassen wie dir möglich ist ... – ... Ok? Dann können wir loslegen, wenn du dich bereit fühlst.«
Mit sanfter Stimme begann sie Susan an den Zeitpunkt in ihrem Leben vor etwa einem Jahr zu führen, an dem der Überfall passierte.
Susan mochte den beruhigenden Klang und sie mochte Eva. Nie hatte sie etwas von ihr gefordert, das ihre angeschlagene Psyche nicht bewältigte. Eigentlich wollte sie ihre Ruhe, aber mit ihr ließ sie sich auf die Rückführung ein. Sie wusste, Eva war da.
»Schau dich um, siehst du jemanden in dieser Nebenstraße?« Sie waren an dem Zeitpunkt angekommen, an dem es passiert war. Susan hämmerte das Herz, dass es in ihren Ohren rauschte.
»Ja – da stehen sie.«
»Dann gehe so weit auf sie zu, wie es für dich in Ordnung ist. Schau sie dir an. Sie können dich nicht sehen, du kannst alles in Ruhe betrachten.«
Susan sah sich in ihrer imaginierten Szene lange um.
Da standen sie, die drei Männer, die ihr das angetan hatten. Ihr Leben, ihren Frieden in wenigen Stunden zerstörten.
Der Größte der drei war der Dickste. Seine Jeans hing abgetragen und ausgebeult unter seinem Bauch. Der Hosenbund verschwand nahezu. Einen Gürtel, sofern vorhanden, konnte sie nicht sehen. Das T-Shirt war genauso verwaschen und schlabberig wie die Hose, seine Frisur extrem ungepflegt. Er war unverkennbar ein Schlägertyp. Der stumpfe Handlanger der beiden anderen. Der, für die dreckigsten Aufträge. Was hatte er in der Hand? Einen Totschläger? Ein Messer? Schlagringe? Sie konnte es nur schemenhaft erkennen.
Der Mittelgroße sah dagegen überhaupt nicht nach Dreckschwein aus. Eher wie ein sportlicher Sunnyboy. Der sympathische Typ von nebenan. Hätte sie ihn unter anderen Umständen kennen gelernt, wäre sie vielleicht einen Kaffee mit ihm trinken gegangen. Ordentliche Stoffhose, legeres Hemd, Frisur akkurat, den kurzen Vollbart modisch ausrasiert. Der Traum aller 13-jährigen. Wieso hatte so jemand es nötig, sie derartig zu behandeln?
Der Kleinste, Drahtigste von ihnen war der klassische »Mitläufer«. Ein Judas. Direkt dabei, wenn der Chef es angab. Egal was. Katzbuckelig, mit unnatürlich stechenden Augen. Das Kinn zu spitz, der Hals zu kurz. Er erinnerte Susan an eine Ratte. Eine Kanalratte mit nacktem Schwanz, nur darauf aus, dass es für ihn selber reichte. Er war der Mieseste gewesen, hatte sich erst als Letzter getraut, als die beiden anderen ihm das Feld überlassen hatten. Und dann hatte er es mit perverser Macht genossen, sie zu schänden. Panik kroch ihr den Rücken hinauf, war dabei, ihr Gehirn in die Hand zu nehmen.
»Ich bin da Susan. Geht es noch? Erzähl mir, was du siehst. Wer ist bei dir?«
Susan war zu beschäftigt mit Schauen, um mit Eva zu sprechen. Sie hatte Angst. Sie können mich nicht sehen, redete sie sich zu. Etwas stupste an ihrer Hand. Susan wusste, wer zu ihr gekommen war.
»Hasan! Mein lieber Hasan!«
»Hasan ist bei dir? Klasse! Grüß ihn von mir bitte!«
Susan nickte und kraulte dem schillernden Drachen zwischen den Nüstern. Er blies ein bisschen warmen Dampf aus seinen Nasenlöchern. Liebevoll sah er sie mit seinen Hundeaugen an, tippelte kurz auf der Stelle, bis er Susan seine Flanke zudrehte, damit sie die schützende Wärme spüren konnte. Sanft zog sie einen seiner Flügel über sich, der selbst in dem regnerischen Halbdunkel der Szene wie ein silberner Regenbogen schillerte. Augenblicklich atmete sie leichter.
»Sie sehen dich nicht,« erinnerte sie Eva, »aber, sie können dich durchaus hören.«
Susan lugte skeptisch hinter Hasans Flügel hervor.
»Möchtest du einen oder mehrere etwas fragen? Möchtest du etwas sagen oder mit ihnen sprechen?«
Fragen? Schänden wollte sie sie! Mit dem Messer Muster in die Unterarme schneiden, wie sie es bei ihr versucht hatten. Die Säcke aufschlitzen und sie schreien hören. Tausend ihrer Schreie für jeden von ihren.
»Ich will endlich wissen warum.«
»Dann frag sie.«
Warum das – wollte sie sie fragen.
Warum musste das sein?
Warum habt Ihr es getan?
Warum ich?
Ihr habt doch jede Menge Frauen, die für euch anschaffen. Nehmt eine davon . Auf denen könnt ihr euch so lange abreagieren, wie ihr wollt. Die sind schon tot. Innerlich. Ich habe Euch nichts getan. Ich kenne Euch nicht einmal. Lasst mich und mein Leben in Ruhe!
»Susan, bitte sprich mit mir! Das ist wichtig. Was erlebst du gerade?« Susan atmete, bis sie genug Luft zum Sprechen hatte. Sie hatte den Atem angehalten.
»Ich steh’ vor ihnen. Ich möchte sie alle kaputt machen! Die sollen auch ihren Frieden verlieren! Kaputt machen, will ich sie!«
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