Von ihrem Platz aus hatte sie die komplette Tanzfläche im Blick. Die Kissen auf der Bank, die lieber gleich ein Sofa geworden wäre, waren enorm und hatten – zu Susans Freude entgegen dem sonstigen Einrichtungstrend des Clubs – Troddeln an jeder Ecke. Man versank so schön darin.
Sigi hatte ausreichend Hände geschüttelt, kam zu ihnen herüber und packte Brigid an den Hüften. Er schleppte sie auf die Tanzfläche, ohne sich auch nur ein einziges Mal hingesetzt zu haben.
Dem DJ war nach Techno.
Pang – Pang – Pang.
Erstmal alle Herzen in Gleichklang schalten.
Pang – Pang – Pang.
Hoffentlich dauerte sein Anfall nicht lange, dachte Susan. Ihr Fall war dieser Musikstil ja nicht. Dafür war sie zu alt. Der Bass (mehr war es im Grunde ja nicht) erinnerte sie an das Trommeln afrikanischer Eingeborener auf einem dieser mystischen Dorffeste. Stampfende Baströckchen mit sonst nix ums Lagerfeuer herum. Klischee? Vielleicht. Live hatte sie einen original Afrodance nie erlebt.
Pang – Pang – Pang.
Schwoof – taa ta ta – taa ta ta
Ein geschickterer Übergang wäre denkbar gewesen.
Versöhnlichere Klänge für ihre Ohren.
Discofox.
ABBA – Dancing Queen.
Brigid und Sigi waren in ihrem Element.
Eins – zwei – tapp.
Und nochmal: Eins – zwei – tapp
Überall: Eins – zwei – tapp.
Schwedischer Pop unterm marokkanischen Sternenzelt.
»Susan – willst du?«
Ralf hielt ihr seine Hand hin.
Upps, sie hatte ihn bei dem ganzen Pang-Pang zuvor glatt vergessen. Er stand neben dem Tisch, hatte sich nicht gesetzt.
»Ach nö, lass mal, ich möchte erst was essen. Später? Ok?!?«
Ihr war klar, dass sie Ralf damit den Abend ein bisschen vermieste, hatte momentan aber keine Lust auf eins – zwei – tapp. Sie machte es sich zwischen den Kissen bequem. Gedankenverloren zog sie die bunten Quasten durch ihre Finger.
Ihr Kellner kam an den Tisch und stellte vor den Single- Mann einen Teller mit Pommes und etwas, das aussah wie der Versuch eines Schnitzels auf Deutschniveau. Susan starrte amüsiert auf den grandiosen Fleischfetzen.
Im Fishavi gab es ja fast alles. ›Alles‹ im Bezug auf die kulinarische Ausrichtung (und da gehörte für Abdul eigentümlicher Weise ›deutsches Schnitzel‹ ohne jegliche Kompromisse dazu), ›fast‹ im Bezug auf Schweinefleisch. Wienerschnitzel aus Kalb? Ja! Schwabenschnitzel aus Schwein? Nein! Da hörte selbst für ihn der Spaß auf. Couscous, Curry, Sushi, ein gediegenes Wasserpfeifchen, durchaus auch fragwürdigeren Inhalts, seinetwegen das ein oder andere leichte Mädel – sie und ihr Eigenmarketing wurden geduldet, solange der Umsatz stimmte. Auch mit Alkohol hatte der überzeugte Moslem kein Problem. Er musste ihn ja nicht selber trinken. Was wer im Fishavi tat oder zu sich nahm – Abdul hielt sich raus. Nur Schwein kam ihm nicht rein. Currywurst und Schweinshaxe fehlten auf seiner Karte. Und Kalb kannte er nicht. Die Turboscheibe Fleisch, die (ganz deutsch) links und rechts über den Teller hing, bestand aus Kuh, einer sichtbar betagten.
Susan bestellte Mangolassi und Gemüsecouscous. Für die scharfe Soße, die sie über die Nudelkrümel schütteten, hätte sie sterben können. Je nachdem, wer Dienst in der Küche schob, lag das durchaus im Bereich des Möglichen.
Über der Tanzfläche spie jetzt eine gewaltige Spiegelkugel passend zum ABBA-Song ihre tausend künstlichen Sterne an die Wände des Clubs. Susan blinzelte ins Lichtergewirr.
Weit, weit darüber funkelten ihre echten Brüder – durch das Blitzer-Glitzer der Lichtshow unseligerweise im Moment nicht auszumachen.
Das Fishavi konnte das komplette Dach einziehen, irgendwohin wegrollen, dass man in ihm im Grunde in einer ausladenden Freiluftanlage mit Indoor-Mobiliar saß. Der Nachtwind strich dann darüber und wirbelte einem ab ausreichend Beauforts die eigenen Gedanken und Sehnsüchte durcheinander. Das war der Hauptgrund, warum sie alle soweit aus der Stadt heraus hierher kamen.
Susan legte den Kopf auf die Sofabanklehne und versuchte, die Sterne hinter den Glitzerlichtern zu erkennen. Der Himmel war heute klar wie das frisch gefrorene Eis eines Bergsees.
Jetzt war sie hier, fast im Freien und das bei Nacht. Durch die Menschen um sie herum abgeschirmt, begann sie zu entspannen und den Abend zu genießen. Sie hoffte, dass das Dach heute geöffnet bliebe.
Manchmal drohte ein Sandsturm (was selten der Fall war) oder ein richtiger Sturm mit Gewitter und Regen (was im Grunde nie der Fall war). Dann drückte jemand auf einen Knopf und Fishavis Überdachung schwebte wie ein fliegender Teppich binnen Minuten zurück an seinen Platz. Darunter verwandelte sich die Luft aber schnell in einen kaum atembaren Mief, dass man an solchen Abend besser die Location wechselte. In dieser Nacht war damit nicht zu rechnen.
Sie war hier.
Susan wippte und summte aus ihrem Kissenberg heraus zur Musik mit. Die Stücke der schwedischen Band, die der DJ jetzt rauf und runter jubelte, hatte man im Kopf. Da sang das Hirn ohne Zutun, ob man wollte oder nicht.
Der Singlemann neben ihr säbelte immer hektischer an seinem Fleischfransen. Es bedurfte handwerkliches Geschick für dieses Gericht. Das Fleisch war genauso zäh, wie es aussah. Auf jedem, dem kleinsten Bissen, den er dem Teil mühsam abgerungen hatte, kaute er ewig herum. Messer und Gabel führte er dabei grazil und zielsicher, eine Fähigkeit, die bei der Allgemeinheit heutzutage ja inzwischen weniger zur Grundausstattung gehörte.
Susans Augen verzogen sich voll Mitgefühl. Er erwiderte ihren Blick mit Schulterzucken.
»Zweimal gestorben die Kuh!«, meinte er, zwischen zwei Bissen.
»Ja, Fleisch können sie hier nicht besonders gut. Höchstens geschmort.«
»Isst du nichts?«
»Ich hab’ gerade erst bestellt. Aber ich mag sowieso kein Fleisch.«
»Hm.« Er nickte, versuchte es mit dem nächsten Bissen. Nachdem er das Stückchen in den Mund geschoben hatte, legte er das Besteck genervt, aber akkurat auf zehn Uhr- Stellung auf den Teller.
»Braucht man gute Zähne.« Sie lachte ihn amüsiert an. Der Mann hielt sich seine Hand entschuldigend vor den Mund, nickte nur. Mit vollem Munde redet ... Selten gut erzogen!
Der Kellner kam mit dem Lassi, knallte es wort- und blicklos vor sie auf den Tisch. Singlemann und Susan tauschten Blicke und beidseitig belustigtes Schulterzucken über das unfreundliche Tun der Bedienung.
Für’s Erste ausgetanzt, kamen Sigi und Brigid zurück an den Tisch. Vor Anstrengung waren ihre Gesichter knallrot, Schweiß stand auf ihrer Stirn. Die Nacht hatte die Luft nicht wirklich abgekühlt. Die massiven Steinwände schickten die Tageswärme zurück zur Tanzfläche.
»Oh, Susan, darf ich mal?«
Mit einem Rutsch schüttete Sigi ihr Lassi in sich. Mit einer Handbewegung rief er gleichzeitig den unterkühlten Kellner heran. Als der endlich in seine Richtung blickte, hob er das Glas auf Kopfhöhe und deutete mit Zeige- und Mittelfinger darauf. Zwei Mal neu, bitte!
»Ihr habt Euch schon bekannt gemacht?«
Brigid war zu Susan und Singlemann auf die Bank gerutscht. Sie drängte sich beim Hinsetzen so eng an sie, dass Susan nichts anderes übrigblieb, als näher zu ihrem Nachbarn aufzuschließen.
»Bekanntgemacht? Äh, so gut wie, ja!?!«
Susan sah Brigid an. Der Typ neben ihr begann eben einen weiteren chancenlosen Angriff auf sein Schnitzel und hörte ihnen nicht zu.
»Nicht? Ja also: Steve, das ist Susan, Susan – Steve!«
Sie nickte dem Kauenden zu. Steve also. Hätte sich das geklärt.
Der Kellner stellte die neuen Getränke vor die beiden Frauen. Diesmal mit Blickkontakt, was hieß, er sah sie so angepisst an, als hätte er die Mangos in seiner Freizeit persönlich für sie pflücken müssen.
»Dem kneift der Sack im Frack!«, kommentierte Sigi den Blick der Frauen und tänzelte im Discofox Grundschritt von einem Fuß auf den anderen. Nicht nur einmal klaute er dabei Pommes von Steves Teller.
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