Eines Morgens, sie war nun fast den siebten Monat auf der Farm, und der Spätsommer hatte Einzug gehalten, kramte sie wieder die Waage hervor. Die blaue Latzhose, die ihr zu eng gewesen war, schlackerte nun an ihrem Körper. Vorsichtig stellte sich Nic auf die Waage und hielt die Luft an, sie wog nur noch achtundsechzig Kilo. Sie hatte sich schon lange nicht mehr nackt im Spiegel angesehen, doch jetzt schien der Augenblick gekommen, dieses Risiko einzugehen. Ängstlich trat sie im Bademantel vor ihr Abbild und ließ das Kleidungsstück zu Boden fallen, dabei hatte sie die Augen fest zusammengekniffen. Nic atmete tief ein und wagte zögernd einen Blick. Das sah gar nicht so schlecht aus, stellte sie erleichtert fest. Ihre Haut war straff und sie hatte tatsächlich an einigen Stellen Muskeln bekommen. Das Mädchen, das sie im Spiegel sah, war jung und hübsch. Zaghaft schmunzelte sie sich zu. Nur um den Unterschied zu sehen, schlüpfte sie in eine alte Jeans von sich - die Hose rutschte ohne Probleme an ihr herunter. Ihr Herz machte einen Sprung! Es war an der Zeit, in die Stadt zu fahren und sich neue Kleider zu gönnen. So ein Tag würde ihr mit Sicherheit guttun, überlegte Nic, sie musste mal raus aus ihrem Trott. Wenn sie schon dort war, konnte sie auch gleich zum Friseur gehen.
Am nächsten Tag, nachdem sie die Tiere versorgt hatte, machte sie sich voller Vorfreude, mit Großmutters altem Auto, auf den Weg. Etwas unsicher betrat sie das Bekleidungsgeschäft, doch die Verkäuferinnen versicherten ihr, dass sie in den Jeans, die sie anprobierte, umwerfend aussah. Nic erstand drei Jeans; eine behielt sie gleich an. Die Verkäuferin entsorgte die alte Hose mit spitzen Fingern. Nic erstand dazu noch einige T- Shirts und zwei Hemden. Glücklich verließ sie das Geschäft und bog um die nächste Ecke. Als sie die Tür zum Friseurgeschäft öffnete, erkannte sie sofort eine alte Schulkollegin wieder. Sie hatte nicht studiert und lieber ihre große Liebe geheiratet. Die beiden jungen Frauen fielen sich vor Freude in die Arme. »Nicoletta«, rief Mandy, »du siehst ja super aus! Komm, ich mache dir erst mal eine kosmetische Verwöhnbehandlung und dann bringen wir deine Haare in Form. « Mandy duldete keine Widerrede und Nic musste sich fügen. In der ganzen Zeit schnatterte Mandy ununterbrochen, und Nic fühlte sich plötzlich wieder wie ein Teil dieser Kleinstadt. Als sie nach drei Stunden den Laden verließ, war Nic ein neuer Mensch. Einige Männer auf der Straße drehten sich mit Bewunderung nach ihr um, und sie lief langsam, um dieses Gefühl zu genießen.
Als sie an der Auslage eines Schmuckgeschäftes vorbeiging, blieb sie erstaunt stehen. Im Schaufenster lag die gleiche Kette mit dem Herzanhänger, wie sie ihn von Onkel Luis bekommen hatte. Ohne zu zögern, betrat sie das Geschäft und kaufte sie. Im Stillen fragte sie sich, ob die blauen Flammen auftauchen würden, um die Kette wieder zu zerstören. Wenn das geschah, hatte sie wenigstens den Beweis, dass es nicht an Onkel Luis lag. Doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es anders war. Seit Monaten ging sie Onkel Luis aus dem Weg. Sie erfand immer neue Ausreden, um sich nicht mit ihm treffen zu müssen. Doch lange würde er sich nicht mehr vertrösten lassen.
Als sie auf der Farm ankam, setzte sie sich mit einer kalten Zitronenlimonade auf die Veranda. Sie wartete auf die blauen Flämmchen, doch nichts geschah. Im Grunde hatte sie das erwartet; es war der endgültige Beweis: das Haus duldete nichts von Onkel Luis. Eine Zeit lang saß sie grübelnd da, dann fasste sie einen Entschluss, sie ging ins Haus und rief ihn an. Onkel Luis schien hocherfreut, ihre Stimme zu hören, und er war außer sich vor Freude, als sie sich mit ihm in der Stadt verabredete. Gedankenverloren legte sie auf, es war an der Zeit, herauszufinden, was an ihm nicht stimmte. Als sie das Café betrat, hätte Luis fast die Tasse mit Kaffee, die er gerade zum Mund führte, fallen lassen. Eine wunderschöne, schmale und körperlich durchtrainierte junge Frau schwebte zu ihm an den Tisch. Einige Männer im Café unterbrachen ihr Gespräch und verrenkten sich den Kopf nach Nic. Sie sah wirklich fantastisch aus. Das pickelige, plumpe und ungepflegte Wesen mit den strähnigen Haaren war verschwunden - vor Onkel Luis stand eine fünfundzwanzigjährige Schönheit. »Hallo, mein Mädchen«, rief er mit geheuchelter Freude, »du hast dich aber verändert, Donnerwetter. Aber ich finde, du bist ganz schön abgemagert. Komm setz dich, ich bestelle uns erst einmal ein Stück Kuchen. «
Nic hatte sich nicht nur äußerlich verändert, ihr Geist war auch wacher geworden. Sehr genau spürte sie, dass etwas Dunkles und Kaltes von Onkel Luis ausging. Sie versuchte, herzlich zu klingen, als sie ihn begrüßte, doch sie war auf der Hut und beobachtete ihn genau.
Wie immer hatte er ihr Blumen mitgebracht. »Danke, Onkel Luis«, täuschte sie Freude vor, »die sind wie immer wunderschön. « Kaum hatte sie sich gesetzt, stellte sie mit Entsetzen fest, dass ihr Magen zu knurren begann. Das konnte doch nicht wahr sein. Rasend schnell breitete sich das Gefühl in ihr aus. Bis sie schließlich nur noch daran denken konnte, Kuchen zu essen. Luis freute sich, als er ihren Anhänger sah. »Ich sehe, du trägst meine Kette«, sagte er einschmeichelnd. Kurz flammte ihr schlechtes Gewissen auf, aber dann nickte sie nur und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Ihr Magen knurrte jetzt laut, sie atmete tief ein. Ganz klar sah sie nun die Zusammenhänge. Immer wenn sie sich mit Onkel Luis traf, bekam sie diese Fress-Attacken. Ihre Erinnerung ging etwas in der Zeit zurück, als sie noch ihr kleines Zimmer hatte. Alle vierzehn Tage hatte sie sich mit Onkel Luis getroffen, und immer hatte er Blumen und ein kleines Geschenk dabei. Es war ihr nie aufgefallen, aber wenn sie darüber nachdachte, war nach diesen Treffen ihr Hunger immer um vieles größer gewesen. »Ich werde dir erst einmal ein ordentliches Stück Kuchen bestellen«, hörte sie ihn sagen », das kann sich ja kein Mensch mit anhören, wie dein Magen knurrt. « Nic wusste, er würde keinen Widerspruch dulden. Trotzdem schüttelte sie entschlossen den Kopf und versuchte verzweifelt, an etwas anderes zu denken. »Nein, bitte, Onkel Luis, ich habe wirklich keinen Hunger. « Er legte seine Hand liebevoll auf die ihre, doch Nic zog die Hand weg, als habe sie sich verbrannt. Stumm sah er sie für einen Augenblick mit zusammengekniffenen Augen und heruntergezogenen Mundwinkeln an. Dann wurde sein Gesicht wieder freundlich. »Aber was ist denn mit dir los, mein Mädchen? «, fragte er. Nics Geist war dabei ihr zu entgleiten, um sich nur noch dem Essen hinzugeben. Sie kämpfte darum, bei klarem Verstand zu bleiben. In ihrem Kopf hörte sie eine leise Stimme, die sagte nur einen Satz: »Wall aus Kristall, entstehe überall. « Wie von selbst sprach sie im Geiste weiter: »Schütze mich, du heller Stein, so soll es sein. « Unbemerkt hatte sie ihre Hand in die Hosentasche gesteckt. Der Bergkristall rollte in ihre Handfläche, doch fast hätte sie erschrocken aufgeschrien - er war eisig kalt. Wieder und immer wieder sprach sie diese zwei Sätze in ihrem Kopf. Sie stellte sich vor, wie eine Wand aus Bergkristall sie zu umschließen begann. Erleichtert und gleichzeitig erstaunt stellte sie fest, dass es ihr wieder gutging. Sie konnte klar denken - das Gefühl des übermächtigen Hungers hatte sich aufgelöst.
Onkel Luis hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Arme vor seiner Brust verschränkt und beobachtete sie mit versteinerter Miene. Seine Stimme klang kalt und gefühllos, als er sprach:
»Glaubst du, das bisschen Kindermagie könnte mich aufhalten? « Kurz wurde Nic abgelenkt, als ein junger Mann das Café betrat. Seine schulterlangen blonden Haare standen ihm struppig um den Kopf. Sein Gesicht war mit einem Vollbart so zugewachsen, dass sie seine Züge nicht erkennen konnte. Er war groß und sehr schmal, sie sah, wie er den Kopf hob und die Luft fast witternd tief in die Nase zog. Kurz begegnete sein Blick dem ihren. Er schien mehr zu trotten, als zu gehen, und er ließ sich an einem Tisch hinter Onkel Luis nieder. Für Nic sah der junge Mann fast aus wie eine Mischung aus Mensch und Hund.
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