Nics Aufmerksamkeit wurde von Onkel Luis an den Tisch zurückgezwungen, als er sagte: »Du unterschätzt die Situation. Ich habe es all die Jahre mit Liebe und Güte versucht, aber ich kann
auch anders.« Er beugte sich etwas nach vorne. »Ich will die Farm und dich, mein Liebes, und ich bekomme das auch. « Nic schüttelte den Kopf, was war denn nur plötzlich in Onkel Luis gefahren? Leise sprach Luis weiter: »Deine Großmutter hat dich schlecht vorbereitet, du hast keine Ahnung, was die Farm wirklich ist. Ich habe all die Jahre dafür gesorgt, dass du fett, hässlich und unglücklich bist. So habe ich erfolgreich dafür gesorgt, dass dich kein Mann attraktiv findet«, flüsterte er.
Nics Mund formte ein fassungsloses „Oh“, doch mehr konnte sie nicht sagen. Ungerührt sprach Luis weiter: »Mein Sohn wird bald kommen, für ihn habe ich deine Jungfräulichkeit all die Jahre bewahrt. Ihr werdet euch vereinen, und gemeinsam öffnet ihr die Mauer. Das ist deine Bestimmung. «
Nic zitterte am ganzen Körper; hätte sie doch nur auf ihre Großmutter gehört. Sie verstand überhaupt nicht, von was er da sprach. Luis drehte seinen Spazierstock in ihre Richtung. Nic wurde schwindelig, es schien fast so, als würden die Augen des silbernen Drachenkopfes wieder rot leuchten. Auch die Symbole und Zeichen begannen nun rot zu glühen, und es schien, als würden sie ineinanderfließen. Wie aus weiter Ferne hörte sie nun die Stimme Luis‘: »Du wirst mich in dein Haus einladen, und du wirst es mir verkaufen. « Sie nickte mechanisch, als plötzlich der Hundemann von hinten über Luis fiel. Wieder trafen sich kurz ihre Blicke, und seine Stimme knurrte: »Verschwinde von hier. Los, steh auf und lauf, Mädchen. « Mit tauben Beinen und pochendem Herzen sprang sie auf und stürzte davon. Sie hatte das Gefühl, dass sie erst wieder klar denken konnte, als sie auf der Farm ankam.
Nic war zutiefst verletzt und enttäuscht. Ohne Umwege ging sie in die Küche, suchte den Brief von ihrer Großmutter heraus und las:
Liebste Nic,
so, nun hat also Luis endlich seine Maske fallen lassen. Er ist eine große Gefahr für dich, und er würde auch nicht zögern, dich zu töten, wenn du ihm nicht mehr von Nutzen bist. Ich bitte dich, lies das Buch über den Nexus, damit du die Farm verstehst. Ich hoffe, dein Beschützer ist rechtzeitig zurückgekommen. Deine körperliche Ausbildung ist fast beendet, was du zum großen Teil den Tieren zu verdanken hast. Alles was geschieht, ist nur zu deinem Besten. Es wird Zeit, dass du noch andere Dinge begreifst.
Sie ließ den Brief sinken. Wieder einmal hatte Großmutter sich kurzgehalten, dabei hatte Nic noch so viele Fragen. Welche Ausbildung meinte Großmutter? Was hatten denn die Tiere damit zu tun? Sie dachte über die letzten Monate nach, und dann begriff sie. Wie oft war sie den Tieren hinterhergelaufen? War das nicht das reinste Fitness-Training gewesen? Wie schon so oft in letzter Zeit, überlegte sie, ob Tiere nicht doch selbstständig denken konnten. Aber das ergab keinen Sinn. Nic fühlte sich mit einem Mal wieder sehr einsam, was war hier nur los? Sie sank auf einen Stuhl, und gerade als sie über ihr Elend weinen wollte, hörte sie den Großen Schwarzen aufgeregt im Stall wiehern. Sie griff nach der alten Schrotflinte. Zum Glück hatte Großmutter ihr gezeigt, wie man damit umging. Mit der Waffe im Anschlag trat sie vor die Tür. Die Dunkelheit hatte sich schon über das Land gelegt. Der erste Nebel kroch über die Felder, und es war unheimlich still. Schnell lief sie zum Stall. Als das Licht flackernd den Stall erhellte, sah sie, dass alle Tiere unruhig waren. Die Hühner hatten unter dem großen Pferd Zuflucht gesucht. Die Tiere starrten an ihr vorbei in die Nacht. Und dann hörte sie das langgezogene Heulen eines Wolfes. Eine Gänsehaut lief über Nics Körper und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Der Hengst wieherte laut, seine Hufe krachten gegen das Holz seiner Box. Wieder heulte der Wolf, diesmal war er ganz nahe. Die Tiere im Stall schienen gänzlich durchzudrehen, denn alle begannen sie durcheinanderzuschreien. Nic war entsetzt. Verhielten sich Tiere, wenn sie Angst hatten, nicht still? »Ruhe! «, rief sie, und tatsächlich verstummten alle auf einmal. Noch einmal hörte sie den Wolf heulen, aber nun schon in weiter Ferne. Sie blieb noch eine Weile und horchte angestrengt, doch es blieb alles still. Sie löschte das Licht und ging zurück zum Haus. In Großmutters altem Bücherregal fand sie schnell, was sie suchte. Die Angst über das Wolfsgeheul saß ihr noch in den Knochen, und so fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Zuerst las sie etwas über Geomantie, wo behauptet wurde, aus der Erde würden elektromagnetische Wellen fließen, die sich dann zu Kraftlinien vereinigten. Angeblich zogen sie sich über die ganze Erde.
Müde wollte sie schon das Buch auf die Seite legen, da las sie etwas, das sie fesselte. Eine solche Kraftader schützte alles in ihrem Umfeld, also auch Menschen, Tiere und Pflanzen. Aber nicht nur das. Kreuzten sich die Linien, nannte man sie Nexus. Es kam so gut wie nie vor, dass sie sich aus allen vier Himmelsrichtungen kreuzten, aber wenn dies geschah, war der Schnittpunkt ein magischer Ort. Er eignete sich für kraftvolle, magische Handlungen und unterstützte den wahrhaft Suchenden mit großem Schutz und ermöglichte einen Übergang in die andere Welt. Welchen Übergang? Und welche andere Welt? Sie ärgerte sich ein wenig. Das Buch war so geschrieben, als müsste jeder wissen, um was es geht. Die Kraft dieser Linien konnte durch das Setzen von Steinen verstärkt werden. Aber man konnte sie auch ihrer Kraft berauben, indem man Straßen, Autobahnen oder Betonhäuser auf sie setzte. Erstaunt ließ Nic das Buch sinken. Hatte Großmutter nicht erzählt, dass dieses Haus auf solchen Linien stand?
Als sie am nächsten Morgen zum Stall ging, bemerkte sie gleich, dass etwas nicht stimmte. Sie war sich ganz sicher gewesen, das große Tor am Abend fest verschlossen zu haben - nun stand es weit offen. Ihr Herz begann vor Angst schnell zu pochen, und sie beschleunigte ihren Schritt. Als sie um die Ecke bog, traute sie kaum ihren Augen. Ein fremder junger Mann stand bei dem Großen Schwarzen an der Box. Er hatte seine Hand auf die Stirn des Tieres gelegt und redete in einer Sprache mit ihm, die sie noch nie vorher gehört hatte. Fast hätte man meinen können, das Pferd hörte ihm aufmerksam zu. »Was machen Sie da? «, rief sie lauter als beabsichtigt. Er drehte sich erschrocken zu ihr herum. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, verzweifelt überlegte sie, wo sie ihn schon einmal gesehen haben konnte. Der junge Mann lächelte offen und deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Balko, und ich stehe zu deinen Diensten. « »Wie kommst du darauf, dass ich Hilfe brauchen könnte? «, fragte sie barsch zurück. Balko hob die Hände zu einer allumfassenden Bewegung.
»Dies ist eine große Farm und du bist eine kleine Frau. Ich sehe, dass hier einiges repariert werden
muss. « Nic sah ihm fest in die Augen; sie glaubte, ihn erkannt zu haben. »Sag, bist du nicht der Typ, der gestern auf Onkel Luis gefallen ist? « Er lächelte immer noch. »Ein unglücklicher Zufall, fürwahr«, meinte er. »Ach, und warum hast du dann zu mir gesagt, ich solle laufen? «, konterte Nic. Er sah sie unschuldig an. Ihr fiel auf, dass er gekämmt war, und er hatte sich den Bart entfernt. Seine Augenfarbe war von einem dunklen Grau. Sie schätzte sein Alter auf zwei- oder dreiundzwanzig.
»Entschuldige, aber ich habe nichts dergleichen gesagt«, meinte er. »Doch, das hast du«, beharrte Nic. Das Pferd wieherte mehrmals leise und Balko nickte, so als habe er verstanden. »Ja, du hast recht«, sagte Balko zu dem Pferd, »ich sollte ihr die Wahrheit sagen. « Wieder wieherte der Hengst und Balko lächelte breit. »Sie ist schlau und so stur wie ihre Großmutter. Doch sie ist noch viel hübscher, als du es gesagt hast. « Nic tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Willst du mir weismachen, du unterhältst dich mit dem Pferd? « Balko lehnte sich lässig an die Box. »Wir sind alte Bekannte, und er wollte nur wissen, wie es seinen Freunden in seiner Heimat geht. « Nic ging einige Schritte rückwärts, offensichtlich hatte dieser junge Mann nicht mehr alle Tassen im Schrank.
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