Nic saß wie vom Donner gerührt - anscheinend hatte Großmutter sie besser gekannt, als sie sich selbst. »Doch ich verfüge, «, las der Notar weiter, »dass Nicoletta ein Jahr auf der Farm leben muss. Sollte sie nach dieser Zeit ihre Meinung nicht geändert haben, darf sie verkaufen. « Nic war etwas entsetzt, sie fragte den Notar: »Wie stellt sie sich das denn vor? Ich werde meinen Job kündigen müssen, wovon soll ich denn leben? Das, was ich so täglich auf dem Hof verkaufe, reicht nicht zum Leben. « Alois Grisham hob die Hand und lächelte. »Stopp, junge Frau, Ihre Großmutter hatte auch noch ein Bankkonto. « Nic verschlug es die Sprache. »Ein Bankkonto? «, würgte sie staunend hervor, woher war das Geld?
Schweigend schob ihr der Notar einen aktuellen Kontoauszug zu. Nic konnte nur trocken schlucken, als sie den Betrag las: 100,000 Dollar waren auf dem Konto. Was hatte sie da noch dagegenzusetzen, fragte sie sich im Stillen. Ein Jahr ging schnell vorbei, dann konnte sie ja ihr altes Leben wieder aufnehmen. »Also gut«, sagte sie resigniert, »wo soll ich unterschreiben? « Nic dachte plötzlich an ihr Auto, das noch in der Stadt stand. »Könnte ich Sie noch um einen Gefallen bitten? «, fragte sie den Notar. »Würden Sie mich bitte mit in die Stadt nehmen? Ich habe dort meinen Wagen stehenlassen und müsste ihn holen. « »Aber natürlich, Fräulein Nicoletta, es wäre mir eine Freude, Sie mit in die Stadt zu nehmen. « Auf der Fahrt nach Wishek unterhielten sich Grisham und sie kaum, was sie als sehr entspannend empfand. Mit einem festen, warmen Händedruck verabschiedete sich Alois Grisham. Er zwinkerte ihr freundschaftlich zu und meinte: »Das war eine sehr gute Entscheidung. Ich bin mir sicher, Sie werden es nicht bereuen, auf der Farm zu bleiben. «
Als sie dann endlich wieder auf der Farm ankam, war es schon dunkel geworden. Nic drehte noch schnell ihre Runde durch den Stall und verschloss das Tor. Wie jeden Abend war sie müde, aber es war nicht mehr diese bleierne, lähmende Müdigkeit, die sie in den ersten Tagen gehabt hatte. Nic kochte sich einen Tee und setzte sich an den Küchentisch und überlegte ihre nächsten Schritte. Morgen würde sie ihren Chef anrufen müssen, um zu kündigen. Gott sei Dank hatte sie keine eigene Wohnung, dafür hatte das Geld, das sie verdiente, nicht gereicht. Sie hatte sich nur ein kleines Zimmer gemietet, und es würde sie nur ein paar Stunden kosten, es zu räumen.
Als Nic am nächsten Morgen ihren Chef anrief, reagierte er wie erwartet: er wehrte sich nicht groß gegen die Kündigung. Er würdigte zwar ihr Können, hatte sie aber immer wieder auf ihr Äußeres angesprochen. »Fräulein Nicoletta«, hatte er mit ernster Stimme gesagt, »Sie müssen sich mehr pflegen, meine Kunden sind über Ihr Aussehen nicht sehr erfreut. « Was noch stark untertrieben war. Schließlich hatte er ihr ein kleines Büro am Ende des Flures gegeben und sie sogar gebeten, dort zu bleiben, wenn Besuch kam.
Dann kündigte sie noch ihr Zimmer und vereinbarte, dass sie am Ende des Monats ihre Sachen holen wollte. Wenigstens ihre Vermieterin schien traurig zu sein, dass sie auszog.
Kaum hatte sie das Telefon aufgelegt, klingelte es auch schon wieder. Als sie abhob, hörte sie die fröhliche Stimme ihres Onkels. »Hallo, mein Täubchen, wie geht es dir? «, fragte er überschwänglich.
Irgendwie hatte Nic ihre Unbefangenheit ihm gegenüber verloren; sein Verhalten war in der Tat sehr merkwürdig. Nic antwortete vorsichtig. »Danke der Nachfrage, mir geht es wieder sehr gut. «
»Das freut mich, mein Liebes«, säuselte er mit sanfter Stimme. »Darf ich denn fragen, wie es mit
der Testamentseröffnung gelaufen ist? « »Ach, Onkel Luis«, seufzte Nic, »Großmutter hat mir zur Auflage gemacht, dass ich erst ein Jahr auf der Farm leben muss, bevor ich sie verkaufen kann. «
Von dem Geld erwähnte sie nichts. Sie hörte ihn wütend schnauben, doch sein Ton blieb nett.
»Das sieht Esmeralda mal wieder ähnlich. Und was machst du jetzt? «, fragte er.
Nic antwortete wahrheitsgetreu: »Ich werde in den sauren Apfel beißen; Job und Zimmer sind schon gekündigt. « »Soll ich dich fahren, wenn du deine Sachen holen möchtest, oder soll ich an diesem Tag lieber die Farm für dich machen? «, fragte er mit einem seltsamen Unterton. Er hatte sie wieder mal in eine Ecke gedrängt, eigentlich wollte sie weder das Eine noch das Andere, doch ihr fehlte der Mut, es ihm zu sagen. So brauchte sie nicht lange zu überlegen - sie würde ihn auf keinen Fall bei den Tieren hier auf der Farm lassen. »Wenn du möchtest, kannst du mich fahren. Ich habe nicht viel, das bekommen wir alles in deinen Wagen hinein«, erwiderte sie. »Aber ich habe ja noch drei Wochen Zeit, bevor wir nach Harvey fahren müssen. « Luis‘ Stimme klang enttäuscht, als er meinte: »Soll ich dich so lange nicht sehen? « »Es tut mir sehr leid, Onkel Luis, aber ich habe wirklich viel zu erledigen«, meinte sie. Doch so schnell gab Luis auch dieses Mal nicht auf. »Wenn du keine Zeit hast, in die Stadt zu kommen, dann komme ich eben zu dir. « Nic brach der Schweiß aus, sie wollte ihn nicht auf der Farm haben; kurzentschlossen log sie. »Also, Ende nächster Woche habe ich in Wishek einige Dinge zu erledigen, dann können wir uns ja wieder auf einen Kaffee treffen. « Nic glaubte zu spüren, dass Onkel Luis lieber zur Farm gekommen wäre, doch er blieb freundlich, als er antwortete: »Ich freu mich schon jetzt auf dich. « Sie unterhielten sich noch ein wenig über Allgemeines, und Nic war froh, als sie endlich auflegen konnte.
Am nächsten Morgen fand Nic eine Waage. Mit klopfendem Herzen stellte sie sich darauf. Ein kleiner Freudenschrei entfuhr ihr - sie hatte fünf Kilo abgenommen! Fünf Kilo in zehn Tagen! Die blaue Latzhose ließ sich auch wieder leicht zuknöpfen; so langsam finde ich das Leben auf der Farm gar nicht mehr so schlimm, dachte Nic beschwingt.
Einige Tage später nahm sie allen Mut zusammen und rief Onkel Luis an. Das Treffen zum Kaffetrinken sagte sie mit viel Bedauern ab.
Als sie sich drei Wochen später, früh am Morgen, wieder wog, hatte sie noch einmal sechs Kilo abgenommen. Gutgelaunt ließ sie sich zu Luis ins Auto gleiten, als dieser sie abholte. Verdutzt sah er sie von der Seite an: Nic hatte sich verändert, sie schien lebenslustiger, und sah um Welten besser aus. Haut und Haare schimmerten gesund, und sie sah, trotz der Farmarbeit, sehr gepflegt aus. Luis‘ Laune sank; sie hatte ihm vorher besser gefallen, er würde schon einen Weg finden sie wieder aufzufüttern. »Wer macht denn heute die Farm? «, fragte er scheinheilig. »Niemand«, erwiderte Nic mit einem Lachen, »ich habe die Tiere heute morgen auf die Weide gelassen und hole sie heute Abend wieder herein. Alle anderen Arbeiten habe ich auf morgen verschoben. Mittlerweile bin ich so gut eingearbeitet, dass ich recht schnell fertig bin. « Luis verzog den Mund, dann fragte er: »Wo hast du denn die schöne Kette, die ich dir geschenkt habe? « Es blieb Nic nichts anderes übrig, als zu einer Notlüge zu greifen. »Es tut mir ja so leid, aber ich muss sie irgendwo auf der Farm verloren haben«, sagte sie zerknirscht. »Das ist aber wirklich schade«, meinte er und schwieg dann.
Die nächsten Stunden Fahrt hatte er noch genug Zeit, sich einen neuen Plan auszudenken. Kaum waren sie eine halbe Stunde unterwegs, begann Nics Magen zu knurren. So ganz konnte sie das nicht verstehen, sie hatte doch gefrühstückt. Ihr Magen knurrte so laut, dass Luis lächelnd meinte: »Ich glaube, wir zwei gehen erst einmal richtig frühstücken. « Er ignorierte Nics Protest und fuhr die nächste Ausfahrt raus.
Eine doppelte Portion Rühreier mit Speck, Bratkartoffeln und vier Scheiben Toast später, fuhren sie weiter. Wie das letzte Mal, als sie sich getroffen hatten, hatte Luis ihr eine Tüte mit Stückchen auf den Schoß gelegt. Nic starrte auf die Tüte. Irgendetwas lief hier ganz falsch, überlegte sie, jedesmal, wenn sie sich mit Onkel Luis traf, hatte sie das Gefühl, nur noch essen zu können, fast wie in einem Fressrausch. Mit jedem Bissen, den sie zu sich nahm, vernebelte sich ihr Geist zusehends; am Ende konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Auf der Farm hatte sie nie solchen Hunger. Verzweifelt überlegte sie, woran das liegen konnte, gab dann aber auf und begann, das süße Gebäck in sich hineinzustopfen.
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