Annette Mierswa
Lola auf der Erbse
Mit Bildern von Stefanie Harjes
»In Liebe meinen Kindern Adrian und Carlo.«
Annette Mierswa
»Für meine kleine Lotti und die große Charlotte.
Mögest Du mutig Deinen Weg gehen.«
Stefanie Harjes
»Wunder werden wahr,
wir müssen sie schauen lernen.«
Ursa Paul
Lola auf der Erbse
Cover
Titel Annette Mierswa Lola auf der Erbse Mit Bildern von Stefanie Harjes
Impressum
Sonntag - Der Donnervogel
Montag - Ein dummer Plan
Dientag - Die wahre Geschichte
Mittwoch - Rêbin Kizilhan
Donnerstag - Geheimniskrämerei
Freitag - Das Gute-Zeiten-Kleid
Samstag - Der Brief
Leinen los!
Lola war nicht gerade ein gewöhnliches Mädchen. Eigentlich hieß sie Loretta Lachmann und wohnte mit ihrer Mutter auf der »Erbse«, einem Hausboot unten am Fluss. Sonderbar waren nicht nur Lolas rosarote Haare. Auch war sie mindestens einen ganzen Kopf kleiner als die anderen achtjährigen Mädchen in ihrer Klasse. Aber besonders ungewöhnlich war, dass sie ihren Hals niemals wusch, weil sie dort einen Schatz aufbewahrte, nämlich den letzten Kuss, den ihr Vater ihr gegeben hatte, bevor er sich in Luft auflöste.
Sie trug meist Kleider, die zu weit und unten abgeschnitten waren, und Turnschuhe mit einem weißen und einem schwarzen Schnürsenkel. Das sollte sie daran erinnern, dass ihr Vater ihr zuletzt gesagt hatte, alles habe zwei Seiten und sie solle immer darauf achten, beide zu sehen. Denn es gebe keinen Schatten ohne Licht, keinen schönen Tag ohne einen trüben und keine Mama ohne einen Papa. Lola hatte sich eine Weile gefragt, ob Mama nun, da Papa verschwunden war, keine Mama mehr wäre. Doch dann hatte Mama ihr erklärt, dass Papa im Gegenteil noch da sei, auch wenn sie ihn nicht mehr sehen könne. Deshalb sprach Lola mindestens einmal am Tag mit ihm. Es war ihr gleich, wo sie sich gerade aufhielt und was die Leute über sie dachten.
Außer ihrem Meerschweinchen Nadu hatte Lola nur einen einzigen guten Freund, und das war der alte Solmsen, der vom Frühjahr bis zum Herbst immer auf einer Holzbank vor seiner Hütte saß und auf den Fluss schaute. »Ich bin sicher, dass er irgendwann wiederkommt«, sagte er, wenn Lola sich nach der Schule zu ihm setzte und in die gleiche Richtung schaute. Sie wusste, dass er von seinem alten Kutter sprach, der eines Tages nach einem schweren Sturm spurlos verschwunden war und von dem man nie auch nur eine Planke gefunden hatte. »Morgen vielleicht«, freute er sich, »und dann kannst du erleben, wie viele Fische der alte Solmsen noch aus dem Wasser zieht.« Nur im Winter kam er nicht heraus, und Lola sah ihn erst im folgenden Frühjahr wieder auf seiner Bank sitzen. Er habe Winterschlaf gemacht, sagte er dann, und Lola freute sich, dass er zurück war.
Ihre Mutter hatte eine kleine Wäscherei in der Stadt und arbeitete vom Morgen bis zum späten Nachmittag. Sie war eine zierliche Frau mit einer energischen Nase und langem dunkelblondem Haar, das sie meist hochsteckte und mit einer Blüte verzierte. Sie hatte kräftige Arme und roch immer ein wenig nach Chlor. Glücklicherweise liebte Frau Lachmann Blumen. Sie überwucherten das Boot, sprossen aus unzähligen Kübeln und Töpfchen und waren in allen Räumen zu finden, sogar im Badezimmer. Der Duft der Blumen milderte den Chlorgeruch.
Noch bis vor Kurzem war Lola nach der Schule immer zu ihrer Mama in die Wäscherei gegangen, wo eine Leiter hinauf in ihr kleines Reich führte. Die für sie eingebaute Hochebene war so niedrig, dass Lola sich dort nur sitzend und liegend aufhalten konnte. Hier hatte sie an einem kleinen Tisch ihre Hausaufgaben gemacht und sich Brettspiele ausgedacht, die sie auf große Bögen Papier malte und anschließend alleine spielte.
Doch da sie viel lieber zum alten Solmsen ging, um mit ihm den Fluss zu beobachten und seinen Geschichten zu lauschen, hatte Frau Lachmann ihrem Drängen nachgegeben. Nun würde Lola nur noch im Winter in die Wäscherei kommen, die daher einen neuen Namen bekam: Winterquartier.
Von der Schule zum »Winterquartier« brauchte Lola zu Fuß eine Viertelstunde, bei der Hütte vom alten Solmsen war sie schon in zehn Minuten, obwohl es bergauf ging. Von dort oben hatte man den schönsten Blick auf den Fluss. Rechter Hand lag der Ort, umrahmt von einer Allee aus großen alten Pappeln. Das höchste Bauwerk war der Kirchturm, dessen Glocken alle fünfzehn Minuten läuteten. In Blickrichtung wurde der Ort durch den Fluss begrenzt, der ein paar Kilometer weiter ins Meer mündete. Das konnte man jedoch nur erahnen, denn der große Wald, der sich hinter dem Ort über eine Anhöhe erstreckte, versperrte die Sicht. Linker Hand lag der Hafen. Zwei Dutzend Fischkutter, ein paar größere Flusskähne und eine Handvoll Segelschiffe hatten dort ihren Liegeplatz. Und geradeaus, am Fuße des Hügels, lag die »Erbse« fest vertäut, auf der Lola die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Sie sah aus wie ein schwimmender Blumenladen. Die leuchtenden Punkte der Blüten spiegelten sich bei Windstille im Wasser und ließen einen Garten daraus werden. Ursprünglich war das Boot ein Flusskahn gewesen, der mit kaputtem Motor nutzlos im Hafen gelegen hatte. Bis Herr Lachmann ihn günstig gekauft und zum schwimmenden Haus umgebaut hatte. So wurde Lola an einem sonnigen Sommertag auf dem Kahn geboren, bei leichtem Wellengang und mit den Füßen voran. Die sanften Bewegungen des Bootes, das Schaukeln und Plätschern waren ihr so vertraut, dass sie nur schwer einschlafen konnte, wenn sie die Ferien mit ihrer Mutter an Land verbrachte. Es beunruhigte sie, wenn es starr und still um sie war.
Wenn Frau Lachmann gegen Abend nach Hause kam, hatte Lola den Tisch schon gedeckt und die Hausaufgaben gemacht. Zumindest sagte sie das, denn dann freute sich Frau Lachmann. Und das war Lola besonders wichtig. Deshalb erzählte sie ihr auch meistens nichts davon, wenn die anderen Kinder sie gehänselt hatten. Derlei Vorkommnisse machte sie gewöhnlich mit sich selbst aus, damit ihre Mutter keinen Grund hatte, schlechte Laune zu bekommen. Denn wenn sie schlechte Laune bekam, dann ging es auch Lola schlecht, schließlich liebte sie ihre Mutter.
Lola war eine gute Schwimmerin. »Wer auf dem Wasser lebt, muss schwimmen können wie ein Fisch!«, hatte ihr Vater gesagt und es ihr beigebracht, als sie gerade fünf Jahre alt gewesen war. Aber der Fluss war kein Schwimmbad, und es gab Gefahren durch die Strömung oder vorbeifahrende Schiffe, die unvorhersehbar waren. Deshalb hatte Frau Lachmann ihr strengstens verboten, an der Reling herumzuturnen. Nur gut, dass der alte Solmsen immer auf seiner Bank saß und zum Fluss hinunterblickte. Er hatte zwar kein Telefon, aber eine sehr durchdringende Trillerpfeife, die jeder im Umkreis von einem Kilometer hören konnte. Und die Leute wussten: Wenn Solmsen pfiff, dann musste etwas Ernstes passiert sein.
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