Nach einer übertrieben langen Pause sagt Mischa mit fester Stimme: „Ich will die Firma verkaufen.“
Harald springt auf. „Das kannst du nicht machen, sie gehört uns, zu gleichen Teilen!“
„Stimmt nicht, Bruderherz. Ich kann! Ich besitze Andys Anteile.“
„Was!“, schreit Harald.
„Er war in Schwierigkeiten, die Drogendealer waren hinter ihm her und da habe ich ihm geholfen, er war schließlich unser Bruder.“
„Geholfen nennst du das. Ich nenne es Betrug.“
„Bist du verrückt geworden?“, sagt Mischa aufgebracht. „Was soll das, Harald, niemand will dich betrügen. Ich wollte dich nur überraschen. Wir haben doch jetzt viel Geld und …“
„Jetzt weiß ich, was du meintest mit, Ich muss hier raus‘!“
Mischa ist erstaunt, er hat eine andere Reaktion erwartet. „Wir sollten lieber unser Leben genießen, als den Tod zu verkaufen. Wir können jetzt gut leben, quasi jeder nach seiner Fasson.“
„Sei nicht so dramatisch: den Tod verkaufen! Bis jetzt fandest du es ganz in Ordnung, mit Waffen Geld zu verdienen. Und nach wessen Fasson sollen wir leben, nach deiner vielleicht?“
„Wir können …“
„Wir können nicht und du kannst auch nicht. Schon gar nicht allein. Du verschleuderst das Erbe unserer Eltern. Ist es das, was du willst?“
„Jetzt bist du es aber, der hier dramatisch ist.“ Es entsteht eine lange Pause. Harald versucht es noch einmal sachlich. „Gibt es da noch mehr als die Schulden von Andy. Vielleicht ein kleines, schmutziges Drogengeschäft?“
„Nun reicht es aber!“, braust Mischa auf.
Harald hat sich wieder hingesetzt. Keiner guckt dem anderen in die Augen. Die Pause wird quälend lang.
„Du willst also verkaufen? Vielleicht hast du es ja schon getan.“
„Nein“, sagt Mischa kurz angebunden.
„Und es gibt keine Chance, dich umzustimmen?“
Mischa hat mit einem solchen Widerstand nicht gerechnet. „Nein, warum auch, nächste Woche wird der Vertrag unterschrieben.“
Die beiden schweigen, bis Mischa den Kopf hebt und seinen Bruder spöttisch ansieht.
„Da du dich plötzlich und überraschenderweise so sehr dafür interessierst, kannst du die Firma ja zurückkaufen – und Regina bekommst du noch dazu.“
Harald springt wütend auf. „Das ist eine bodenlose Gemeinheit.“
Mischa erhebt sich und klopft seinen Bruder beruhigend auf die Schulter. „Entschuldige, so war es wirklich nicht gemeint.“
Harald schiebt seine Hand beiseite. „Das war so gemeint. Du meinst es immer so.“ Er ist den Tränen nahe.
Diese Reaktion hat Mischa nicht erwartet, plötzlich tut ihm sein Bruder leid.
„Lass es für heute genug sein, Harald. Wir reden morgen weiter. Bleib hier, du weißt, dein altes Zimmer ist immer für dich bereit.“
Harald schaut ihn ausdruckslos an und verlässt schweigend das Zimmer. „Denk’ mal drüber nach“, hört er Mischa ihm hinterher rufen.
Nach dem Chaos der letzten Nacht ist Ruhe im Schanzenviertel eingekehrt. Der Kontrast zwischen Tag und Nacht könnte nicht größer sein. Die Restaurants, die Tante-Emma-Läden und die Straßen-Cafés mit ihrem bunten Publikum vermitteln tagsüber eine Atmosphäre von Leben-und-Leben-Lassen. Aus dem ehemaligen Arbeiter-viertel entstand die „Schanze“ und durch den Neubau luxuriöser Eigentumswohnungen ein Szene-viertel, sehr zum Ärger der alten und der neuen Bewohner.
Nachts aber herrscht hin und wieder der Terror. Zankapfel ist die „Rote Flora“, ein ehemaliges, jetzt heruntergekommenes Theater, von alternativen Bewohnern besetzt und zu einem Kulturzentrum erklärt. Der kleinste Anlass – ein Demonstrant sei „irgendwo“ verletzt worden – führt zu einer Eskalation zwischen der Polizei und den Anwohnern der „Roten Flora“, die, von durch das Internet informierten militanten Berufschaoten, unterstützt werden.
Die Sonne versucht mit Gewalt durch die Ritzen des Vorhangs einzudringen. Kurze grelle Lichtblitze fallen auf Boxhandschuhe, Hometrainer, Punchingball, Hanteln und Trophäen, der restliche Teil der Junggesellenbude ist in schummeriges Licht getaucht. Ulf und Marion liegen im Bett, es ist die Zeit danach. Ihre Körper glänzen vom Schweiß der letzten Stunde. Es ist drückend heiß.
„Wenn der Bursche nicht endlich seine Finger von dir lässt, kann er was erleben“, sagt Ulf und man glaubt ihm aufs Wort.
Schnippisch erwidert Marion: „Wir sind nicht verheiratet und ich bin nicht dein Eigentum.“
„Zurzeit gehörst du auf jeden Fall mir mehr als ihm.“
„Deine Machotour lasse ich mir nicht mehr gefallen.“ Sie steht auf, obwohl Ulf versucht, sie zurückhalten.
„Lass mich, für heute wars das mal wieder. Die letzte Stunde können wir uns schenken. Ich geh dann mal.“
Harald geht in seinem alten Zimmer umher und bleibt vor einem Jugendfoto stehen. Es zeigt Regina und die drei Brüder, alle lachen in die Kamera. Er greift zum Telefon, wählt und wartet ungeduldig, bis sich der Anrufbeantworter meldet.
„Hallo Regina, vielleicht bist du ja da, ich wollte dich nicht stören, aber vorhin vor dem Haus …“
Eine hörbar verstörte Stimme meldet sich.
„Ja, Harald, entschuldige bitte, ich bin noch nicht ganz da und wollte mit niemandem reden.“
„Ich mach mir Sorgen, du warst so durcheinander.“
„Harald, bitte, ich will nicht darüber sprechen. Sicher hast du schon mit Mischa geredet.“
„Was ist mit deiner Stimme, Regina?“
„Lass uns kein Theater spielen, Harald, du weißt, dass ich getrunken habe.“
„Mischa ist es nicht wert.“
„Nein, Harald, es hat wirklich keinen Zweck. Ich lege jetzt auf.“
„Bitte, Regina, warte. Es gab mal eine Zeit, da hast du mich geliebt.“
„Was soll das, wir waren zehn Jahre alt.“
„… und ich nicht behindert, wolltest du sagen.“
„Harald, bitte, nicht schon wieder … Du kennst uns Frauen nicht, ich liebe Mischa, ganz gleich, was da kommt.“
„Ich lasse es nicht zu, dass du wieder dein Leben wegzuwerfen versuchst!“
„Ich war 21 Jahre alt“, seufzt Regina.
„Ich bin nicht immer in deiner Nähe. Bitte sei vernünftig.“
„Gut, ich verspreche dir, vernünftig zu sein.“
„Schwör es, Regina!“
„Ich will und kann jetzt nicht mehr mit dir reden.“
Harald hält den Hörer noch in der Hand, aus dem jetzt das Freizeichen summt. Er legt auf und schaut aus dem Fenster. Verweist stehen die Liegestühle und ein Tisch am Pool und über allem liegt die flimmernde Hitze. Harald lässt das Eis in seinem Glas klingeln und stöbert in den Schallplatten. Er schaltet den Plattenspieler ein und setzt den Tonarm auf. Es ist „Tosca“, die Arie „E lucevan le stelle“ – „Und es leuchten die Sterne“. Beniamino Gigli singt. Harald hört eine Weile zu, geht zum Fenster und blickt in die Dunkelheit.
Er hört jetzt deutlich Mischas Stimme, der unten auf der Terrasse mit jemandem telefoniert, vielleicht sollte man besser sagen kokettiert, denn immer wieder hört man lautes Lachen.
„Das ist unfair, mir all diese wunderbaren Versprechungen am Telefon zu machen. Du kommst jetzt sofort zu mir, du ungezogenes Ding. Das könnte dir so passen, ich weiß nicht, ob ich bis Morgen warten kann. Also gut, versprochen ist versprochen, bis morgen dann. Ich liebe dich.“
Das Gespräch scheint beendet und Harald wendet sich wieder der Musik zu, als unten das Telefon abermals klingelt.
„Hallo Liebling“, hört er seinen Bruder sagen, bevor die Stimme plötzlich umschlägt in Wut. „Sind Sie verrückt! Wissen Sie, wie spät es ist? Für uns gab und gibt es nur dieses eine Geschäft. Ich mache Sie dafür verantwortlich. Sie allein tragen die Schuld am Tod meines Bruders!“
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