That's it.
Oder?
Jade sog zischend die Luft durch die Zähne. Der Tee, den sie sich nach dem abendlichen Rundgang mit Ronja aufgebrüht hatte, war verdammt heiß. Sie hatte sich die Zunge verbrannt. Warum blies der kleine dreckige Zweifel wieder in ihren Nacken? Sie lauschte in das nächtliche Haus.
Aus Berylls Zimmer drang die übliche finstere Musik. Jades kleiner Bruder war zwölf Jahre jünger, aber überragte sie um einen Kopf. Manchmal fühlte sie sich mit dreißig schon so verdammt alt. Sie ging ins Bad und betrachtete ihr Spiegelbild. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr sie die Narbe entlang, die linke Wange hinauf bis unter das Auge, das seit der Operation leicht schräg stand. Jade hatte sich an den Anblick gewöhnt, sie hatte sich gegen das Tuscheln hinter ihrem Rücken und die mitleidigen Blicke einen Panzer zugelegt. Inzwischen war sie zu der Überzeugung gelangt, dass trotz aller geheuchelter Freundlichkeit neunundneunzig Prozent der Menschen einen Sicherheitsabstand zu ihr hielten. Möglicherweise war das etwas zutiefst Menschliches, ein angeborener Reflex, eine Fluchtreaktion. Vor dem Andersartigen, dem Hässlichen, das sich trotzdem zeigte. Ein Weglaufen vor der Angst, selbst so hässlich sein zu können, wenn ein böses Schicksal es so wollte. Oder ein böser Graf, wie ihre Urgroßmutter gesagt hatte.
Katarina.
Jade verließ das Bad und betrat ihr Zimmer. Auf dem Bett saß Bramabas und starrte sie mit schwarzen Knopfaugen an. Aus einer aufgetrennten Naht am Bauch zog Jade die Kette hervor, die sie seit Kronks Auftritt in Meiers Büro nicht mehr angelegt hatte. Kronk, der auf seine Weise ebenso entstellt war, wie sie.
Jade betrachtete die Glaskugel, die sie im letzten Herbst mit feinen Silberfäden umsponnen und an einer dünnen Kette befestigt hatte. Sie fühlte ihr Gewicht, ihre kühle glatte Oberfläche und sah die filigranen blauen Linien in ihrem Inneren. Wie sehr die Kugel sie an Katarina erinnerte. An ihre Geschichten, über die alle den Kopf geschüttelt hatten. Jade sah das faltige Gesicht ihrer Urgroßmutter vor sich, ihre grauen, fast blinden Augen, hörte ihre leise Stimme.
Es war einmal ein Mann, der böse Bronko, der eine Zauberkugel besaß. Da kam der Bär Bramabas und nahm sie dem bösen Bronko fort. Er sprach das Zauberwort und sofort wurde der böse Bronko zu Stein. Da flogen tausend Schmetterlinge zum Fenster herein und zerschmetterten den bösen Bronko in tausend Krümel. Die verstreuten sie in der weiten Welt. Die Kugel aber versteckte der Bär Bramabas in seinem Bauch. Ich schenke ihn dir, kleine Jade. Hab ihn lieb, dann wird er dich beschützen, wo immer du bist. Aber achte auf die Kobolde. Die kommen nachts aus dem Berg, wenn die Menschen schlafen, denn sie suchen nach der Zauberkugel, die einst der böse Bronko stahl. Doch solange der Bär Bramabas bei dir ist, werden sie dir nichts anhaben können.
Jade blinzelte gegen die Tränen. Sie hielt die Glaskugel vor ihr Gesicht und starrte hinein, bis sich ihr Blick in dem Netz der blauen Fäden verirrte. Und da sah sie es wieder, das Zeichen wie ein Wort in einer unbekannten Schrift, einer fremden Sprache. Und gleichzeitig hörte Jade dieses Wort, ohne dass ein Laut die Stille des Zimmers durchdrang. Jade hob den Kopf und lauschte dem Klang.
Das Schlagen der Eingangstür dröhnte durch das Haus und zerstörte ihn. Jade schloss die Faust fest um die Kugel. Schwere Schritte schleppten sich die knarzende Holztreppe hinauf. Ihr Vater hatte wieder Überstunden gemacht. Jetzt würde er für Stunden in seinem Arbeitszimmer verschwinden. So ging das jede Nacht und Jade wusste warum. Sie schob die Glaskugel in den Bärenbauch zurück. Die Musik aus Berylls Zimmer war verstummt.
Rebell: wer bistn du
kobold: ich?
Rebell: nee du
Beryll alias Rebell verdrehte die Augen. Was für ein Blitzmerker war denn da in den WAAMPIRE-Chat geraten.
kobold: wolte nur schaun
Rebell: und - was interessantes gefundn?
kobold: ihr habt gegne asse gekämpft
Rebell: quatsch
Wolles langhaariger Alter hatte gegen die Asse gekämpft und dafür die Site eingerichtet. Beryll, Ela und die Anderen nutzten sie nur zum chatten.
kobold: und helldor?
Rebell: was is mit helldor
kobold: weiß nich
Beryll schaute auf. Draußen war bereits finsterste Nacht. Kurz vor eins. Helldor? Er tippte wieder.
Rebell: warum fragste dann???
In dem Moment ging noch jemand online. MissVerständnis . Beryll wusste natürlich, wer sich dahinter verbarg.
kobold: hi miss
Ach, daher wehte der Wind. MissVerständnis hatte ein Date mit einem Kobold. Soso. Beryll wollte gerade eine „nette“ Bemerkung schreiben, als MissVerständnis schon wieder verschwunden war.
Rebell: ;-))
Funkstille. Beryll wollte schon nachlegen, dass da wohl nichts zu machen wäre, haha , da hatte sich auch kobold verpisst. Beryll grinste. Damit würde er Ela beim nächsten WAAMPIRE-Treffen in Wolles Keller kommen. Kurz überlegte er, ob er die elektronischen Spuren, die der kobold hinterlassen hatte, weiterverfolgen sollte. Die IP-Adresse war automatisch gespeichert worden, dafür hatte Wolles langhaariger Alter gesorgt, und Beryll wusste, wo sie zu finden war. Er gähnte und schaltete den Rechner und die Children of Bodom aus.
Nebenan fand die Wanderung seiner Schwester mal wieder kein Ende. Jede Nacht lief sie wie eine Gefangene im Zimmer auf und ab, nie ging sie mit Freunden aus. Aber wer wollte schon mit einem solchen Gesicht Arm in Arm gesehen werden? Beryll schämte sich höchstens eine Zehntelsekunde für diesen Gedanken. Plötzlich verstummten Jades Schritte. Beryll lauschte. Auch aus dem Arbeitszimmer seines Vaters drang kein Laut. Über das Haus der Bronskys legte sich die Stille wie ein nasses Tuch. Beryll schloss die Augen.
„Wie willst du sterben?“
Die Stimme des Alten war kaum zu hören und breitete sich in der vollkommenen Dunkelheit wie eine unsichtbare Schwingung aus. Selbst bei Licht war der Alte kaum von der steinernen Umgebung zu unterscheiden und mancher Tourist war schon nichtsahnend an ihm vorbeigeschlichen. Als er sich jetzt nach vorn beugte, schien es, als erwachte der Fels zum Leben.
Bo atmete tief und verzog keine Miene. Seit der Alte ihn zum Lord der Helldor-Kobolde ernannt hatte, war er in unregelmäßigen Abständen sein Gast gewesen, trotzdem hatte er sich nicht an diesen Anblick gewöhnt. Auch nicht an das scharfe Knacken, das die Bewegungen des Alten begleitete. Wie knisterndes Salz, das zu lange in den unbenutzten Gelenken verharrt hatte. Ein betäubender salzgetränkter Geruch ging von ihm aus.
„Der unsichtbare Tod ist schrecklich.“
Bo schwieg. Der Alte war, so wurde erzählt, über sechshundert Jahre alt, und die Gelegenheiten ihm zuzuhören würden seltener werden.
„Ich bin fast blind, aber ich höre besser als ihr alle. Ich höre das Echo, das durch das Salz läuft. Ich weiß, dass der Graf es nicht aufgegeben hat, es nie aufgeben wird. Die alten Geschichten nagen an ihm wie Ratten an einem Kadaver. Er will sich rächen und er versucht es wieder, jetzt in diesem Augenblick. Er hat einen neuen Verbündeten.“
Bo wartete regungslos, während der Alte schweigend in ein fernes Nichts starrte. Der unsichtbare Tod, der mit den strahlenden Fässern in Helldor einziehen würde.
„Er nennt es Operation Bergfrieden.“
Bo nickte. „Ihr seid euch sicher, dass der Graf dahintersteckt?“
Langsam drehte sich der Kopf des Alten, bis seine hinter den schmalen Schlitzen kaum wahrnehmbaren Augen auf Bo gerichtet waren.
„Ich weiß es. Und ich weiß, dass wir uns nicht wehren können. Nicht wie früher.“
Nicht wie früher , ergänzte Bo in Gedanken, als der alte Lord noch lebte und eine mächtige Waffe besaß .
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