Als Ela wieder vor dem Bildschirm saß, brauchte sie mehrere Anläufe, bis sie sich auf die Nachrichten konzentrieren konnte. Beryll hatte sich inzwischen entnervt verabschiedet.
blöd dassdu nicht antwortest! anderweitig beschäftigt odre was?
Und direkt darunter: hi noch jemand wach?
Ela hatte den allgemein zugänglichen Teil des WAAMPIRE-Chats geöffnet. Hier war es für jeden möglich sich einzuloggen und zu schreiben. Dem hier war sie noch nie begegnet. kobold nannte er sich. Oder nannte sie sich.
MissVerständnis schrieb: ?
kobold: ist doch die site von wampire
Klar war sie das, stand doch laut und deutlich und mit Doppel-A oben über dem Chatfenster.
MissVerständnis: steht doch da
kobold: bist du eine von denen?
MissVerständnis: jap
kobold: könn wir pvt?
MissVerständnis: y?
kobold: ich will nich das jeder mitlist
Ela hatte den Mauspfeil auf seinen Chatnamen geschoben. kobold hatte kein Bild oder sonst etwas über seine Person angefügt.
MissVerständnis: was wichtiges?
Im selben Moment öffnete sich ein weiteres Fenster, in dem Ela mit dem Unbekannten privat chatten konnte. Falls sie die Einladung annahm. Ela nahm an.
MissVerständnis: also was gibts
kobold: was wollte der kerl?
MissVerständnis: ?
kobold: du weißt wer
Ela zögerte. Konnte kobold den Wolfsbesuch meinen? Was sonst, aber wieso wusste der davon? Und was sollte die Fragerei?
MissVerständnis: keine ahnung
kobold: schonma was von bergfrieden gehört
Ela zögerte. Vorsicht!
MissVerständnis: wer bist du?
kobold: egal
Sollte sie das hier abbrechen? Andererseits …
kobold: du hast also davn gehört – der typ ist gefärlich
MissVerständnis: wieso
kobold: es geht um helldor
MissVerständnis: na und?
kobold: asse 2 klappt nicht also jetz helldor
MissVerständnis: quatsch
kobold: ich meld mich wieder
MissVerständnis: was willst du?
Keine Antwort. kobold hatte sich ausgeloggt.
Draußen schlugen die Zweige der Buche wie Peitschen gegen die Hauswand. Ihr Vater hatte den Baum längst fällen wollen. Ela fuhr den Rechner runter und legte sich aufs Bett. Lange lauschte sie dem heulenden Sturm.
Drei Tage hörte sie nichts mehr von kobold .
Am nächsten Morgen verließ ihr Vater schon früh das Haus. Ela frühstückte allein und machte sich kurz vor neun auf den Weg zur Schule. Als sie die Haustür öffnete, knirschte etwas unter ihren Sohlen. Feine weiße Krümel lagen auf der obersten Stufe. Die Schuhe ihres Vaters hatten schon viel verwischt, trotzdem war die Zeichnung noch zu erkennen, die dort hingestreut war. Eine Art … Gesicht aus Salz.
Sonntag, 10. Juli, 8.57 Uhr. Flugplatz.
Jade hasste sein Grinsen. Jade hasste die Lässigkeit, mit der Al der Cessna einen Klaps gab und Sekunden später auch ihr. Und sie hasste die Vorstellung, dass Beatrix ebenso bedacht wurde, sobald Jade ihnen den Rücken zudrehte, und dass Beatrix dabei quiekte wie ein … egal. Das Schlimmste war, dass sie selbst so gequiekt hatte. Das war nun vorbei. In sehr naher Zukunft hatte es sich ausgequiekt, für alle drei. Oder genauer für alle vier, falls der vierte Passagier endlich kam.
Al Mandin, der Pilot. Der Held. Das Schwein. Sie war ihm freiwillig gefolgt und für kurze Zeit hatte sie geglaubt, ihre Flucht hätte ein Ende, Weißenhall wäre vergessen, die Behörde weit weit weg. Und die Hölle, zu der alles von dem Tag an wurde, als sich die Tür öffnete und diese gebückte Gestalt ihr Büro betrat. Genauer das Büro ihres Chefs, der ihr gegenüber hinter dem größeren Schreibtisch saß. Jade erinnerte sich sogar an das Datum. Montag, 4. April.
„Kronk“, stellte sich die Gestalt vor, „Graf Diopsid Kronk.“
Jade hatte ihn auf der Stelle erkannt. Er steuerte direkt auf Heribert Meier zu, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Modriger Altmännergeruch wehte ihm nach. Es ginge um dieses Projekt, die Operation Bergfrieden, Meier wisse ja Bescheid. Warum es so lange dauere. Ob es Probleme gäbe.
Der Graf hatte Jade seinen gekrümmten Rücken zugewandt, während er ihren Chef mit rasselndem Wortschwall überschüttete. Jade spürte, wie die Narbe auf ihrer linken Wange mit jedem seiner Worte dunkler glühte. Da stand er zum Greifen nahe. Diopsid Kronk! Jades linke Hand umklammerten den Brieföffner, ein Geschenk ihrer Urgroßmutter. Den jetzt in diesen Rücken rammen! Jade vernahm Kronks schnarrende Stimme wie aus weiter Ferne, als hallte sie in einem unendlichen Raum.
„… kann die Stadt Weißenhall an den Einnahmen beteiligt werden, wenn die Fässer von einem Firmen-Konsortium unter meiner Führung zum Salzstock transportiert werden.“
Meier stammelte irgendwas von einem Planfeststellungsverfahren , das noch nicht abgeschlossen sei. Jade starrte ihn fassungslos an. Was hatte sie in den letzten zwei Monaten verpasst?
„Ich gehe davon aus, dass Sie recht bald die Eignung der Helldor-Stollen bestätigen werden.“ Kronk klang sehr sicher. „Sie tun damit nicht nur sich selbst einen großen Gefallen, sondern auch dem Herrn Forestier, wenn Sie verstehen.“
Jade sah Meier so eifrig nicken, dass ihm die Lesebrille von der kurzen Nase rutschte, während Kronks Rücken vor Zufriedenheit bebte. Meier schob seine Sehhilfe wieder zurück und warf einen warnenden Blick auf Jades Hand, die sich immer fester um den Brieföffner krallte. Der Graf hatte den Blick bemerkt und drehte sich langsam um. Jade zwang sich ruhiger zu atmen und ihm gerade in die Augen zu schauen.
Falls er sich mit Meier allein geglaubt und jetzt beim Anblick ihres narbigen Gesichts erschrocken hatte, war Kronk das nicht anzumerken. Nur seine Augen rollten, als müssten sie in Sekundenschnelle Jade und die gesamte Umgebung scannen. Seine Lippen bewegten sich unablässig und lautlos und mit ihnen die zerklüftete Nase und der spärliche Bart, der wie Moos an einem modrigen Baumstumpf bis zu seinen erstaunlich spitzen Ohren kroch. Wie bei einem alten Karpfen, der Wasser durch seine Kiemen pumpte.
Schweratmend stützte er sich auf seinen Stock und hob ohne Vorwarnung den linken Arm. Ein gichtgekrümmter Zeigefinger richtete sich auf Jades Hals. Trotz der Entfernung glaubte Jade zu spüren, wie sich der gelbe spitze Nagel in ihre Kehle bohrte.
„Was haben Sie da!“
Die Knöchel von Jades linker Hand traten weiß hervor und der Brieföffner bog sich. Aber sie hielt seinem Blick stand. Ohne zu antworten.
„Die Kugel da.“
Jade war längst klar, dass sich der Finger nicht auf ihr Gesicht, sondern auf ihren Hals richtete, auf die Glaskugel, deren Gewicht sie deutlich auf ihrem Brustbein spürte.
„Wagen Sie es nicht!“
Ein Speichelfaden floss aus Kronks rechtem Mundwinkel.
„Woher haben Sie die?“
Jade schob ihren Stuhl rückwärts bis zur Wand. Sie würde diesem Gnom nicht antworten, und schon gar nicht auf diese Frage.
„Woher?“
Hinter Kronk hatte sich Meier erhoben und kam mit unsicheren Schritten näher.
„Aber Frau von Bronsky, sie können doch dem Herrn Grafen …“
„Fassen Sie mich nicht an!“ Es war genauso scharf herausgekommen, wie Jade es beabsichtigt hatte, und bewirkte, dass Kronk seinen Arm sinken ließ. In seinen Augen stand deutlich Wir sehen uns noch! Jade schüttelte langsam den Kopf. Kronk stieß seinen Stock in den Boden und hinkte zur Tür.
„Narbengesicht.“
Vielleicht hatte Jade sich das Wort nur eingebildet wie vorher den Satz in Kronks Augen. Aber sie zweifelte nicht an ihrem Verstand. Noch nicht.
Sie sah ihn im gelben Licht der Straßenlaterne vor ihrem Haus. Sie hatte die Abendrunde mit Ronja beendet. Ronja knurrte und ihr Nackenfell sträubte sich. Jade hielt die Hündin zurück, beruhigte sie aber nicht.
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