Jede Regierung, selbst die der Vereinigten Staaten,
lügt immer und in allem; kann sie nicht über den Kernpunkt
Lügen verbreiten, so tut sie es in Nebensächlichkeiten.
Balzac, in : Glanz und Elend der Kurtisanen.
Bevor der Krieg endete, brachte Mama der lange gehegte Plan, mich in eine höhere als die Volks- oder Gemeindeschule zu schicken, auf den Einfall, mich bei unserem Gymnasium Justus von Liebig anzumelden.
Wir, Großmutter und ich, hatten uns gefragt, weshalb Mama nicht längst nach Weimar oder sonst wohin zu ihrer Luftabwehr abgereist war; auf Fragen, gab sie keine klare Auskunft, aber wir glaubten, dass sie vergeblich auf ihren Ehemann wartete, oder bloß auf ein Lebenszeichen dieses Herren. Sie ging häufig zum Standesamt, um sich zu erkundigen, ob endlich das Jawort meines Stiefvaters eingegangen sei, aber diese Gänge waren bisher vergeblich gewesen. Großvater verteidigte unterdessen das thüringische Vor- und Vaterland; er war eingezogen und zur Bewachung einer Barackenanlage eingesetzt worden, in der die sogenannten Fremdarbeiter aus allen Himmelsrichtungen lebten und sicherlich auf das Kriegsende lauerten, das sie wieder in ihre jeweiligen Heimatländer spedieren würde, nachdem sie uns die Hälse umgedreht hatten. Und übrigens wimmelte die Stadt von Flüchtlingen aus den bedrohten oder schon verloren gegangenen Ostgebieten des Reiches.
Mama schickte sich trotz allem an, dem Direktor des Gymnasiums ihren Sohn als seinen künftigen Pennäler einzuschwätzen. Aus unerklärlichen Gründen waren meine Leistungen recht mäßig geworden. Mir waren sie erklärlich; ich war der Schule überdrüssig. Helene aber sprach mit Hochachtung und Neid von der Bildungsstätte; wer eineHohe Schule besuchen dürfe, dem stünde alles im Leben offen. Hingegen wusste ich recht wenig darauf zu erwidern, befürchtete, dass mit diesem Wechsel eher die Ansprüche an mich steigen würden, als mir einen realen Nutzen einzutragen.
Ihr Schicksal war ungewiss. Mamas Brief an ihre Schwester war lange unbeantwortet geblieben, bis endlich die amtliche Nachricht einging, dass Helenes Mutter Opfer des britischen Bombenterrors geworden sei und unter den Trümmern des Wohnhauses im Berliner Stadtteil Moabit ihr Grab gefunden habe. Diese Mitteilung nahmen alle Hausgenossen ziemlich gleichgültig auf; dass Helene trauerte, konnte ich nicht feststellen; von mir zu schweigen. Die Familie hatte wohl zu lange getrennt und zerstritten gelebt, als dass sich die Bindungen vertiefen konnten. Was mich betraf, so konnte ich im Tode dieser Frau durchaus keinen Verlust sehen, da ich sie nicht gekannt hatte. Jedenfalls war das Mietshaus mitsamt ihrer Wohnung in Moabit durch eine feindliche Sprengbombe gründlich getroffen und zerstört worden; nach Meinung Großmutters kam für diese Tochter, einer religiös Abtrünnigen nicht einmal mehr das Himmelreich in Betracht. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht ihren Neffen gebeten, der verstorbenen Tochter eine Totenmesse zu lesen. Demnach war Helene also eine Halbwaise und musste bei uns bleiben, was weder ich noch Großmutter beklagte, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Nein, der Verlust ihrer Eltern brachte meiner kleinen Schwester weniger als nichts ein, obschon ich sie scheinheilig zu trösten suchte.
Eifervoll unterzog sie sich der Mühe, mich auf die Anforderungen eines Gymnasiums vorzubereiten, mir Aufgaben aus den Lehrbüchern zu stellen, die sie sich in der Stadtbibliothek zu verschaffen gewusst hatte. Ihre altkluge Sanftmut steigerte sich noch, wenn ich störrisch auf ihre Rügen reagierte. Sie bedeutete mir, ich habe dankbar zu sein, sollte ich in diese Hohe Schule aufgenommen werden. So kam es dahin, dass ich manchmal den Dummen spielte, um sie zu einem ihrer Trostsprüche zu veranlassen oder um sie loszuwerden. Später bin ich ein Opfer dieser Rolle und meiner Torheit geworden, aber was weiß ein Knabe von der Tragik des Weiblichen , nach Schnitzler, wenn er meint, im weiblichen Wesen das ihm nahe und angenehme gefunden zu haben.
Eines Tages also nahm mich Mama bei der Hand und besuchte mit mir das altehrwürdige Gymnasium. Um es gleich zu bemerken, die Schule selbst habe ich nie betreten, weil das Rektorzimmer in einem gesonderten Haus untergebracht war, in dem auch die Wohnung des jeweiligen Herren über einige Generationen Pennäler lag, allerdings nur, solange er bedienstet war. Danach hatte er die Wohnung für seinen Nachfolger zu räumen, falls man ihn nicht gnadenhalber weiter wohnen ließ.
Unterwegs beim Gang unter den alten Bäumen des Stadtwalls wurde mir flau; ich wäre am liebsten wieder umgedreht. Auf dem trüben Wasser tummelten sich Enten, wie gern hätte ich mit ihnen getauscht. Das Steintor auf dem Wall stand fest da wie eh und je, und ich empfand, um wie viel Sachen dauerhafter sind als menschliche Wesen, denn dieses steinerne Ding hatte alle und alles überlebt.
Wir warteten im Flur, um vorgelassen zu werden. Dunkel stand Mamas Profil gegen das Fenster und mir fiel auf, dass ihre Nase ein wenig aufwärts gebogen war, zum Himmel zeigte, und dass sich ein Doppelkinn zu bilden begann, was ihr nicht übel stand. Ihre hohe, hinten aufgesteckte Frisur erlaubte es ihr, den kleinen Hut weit ins Gesicht zu ziehen. Endlich durften wir ins Zimmer des Direktors eintreten, eines kleinen dicken Menschen mit einem Kugelkopf. Zwischen seinen Lippen sahen zwei große Schneidezähne hervor, wie die Nagezähne eines Kaninchens, er konnte offenbar den Mund nicht ganz schließen, und ihn übrigens auch nicht halten, wie sich schnell erweisen sollte. Überhaupt erinnerte der Mann ein wenig an einen Rammler, vielleicht weil er den Kopf einzog und die Ohren an den Kopf legte, wenigstens meinem Eindruck nach, wenn er eine seiner hinterhältigen Fragen an uns gerichtet hatte. Eilfertig notierte er meinen Namen, als wolle er sich meiner unwiderruflich versichern. Eher beiläufig ließ er sich meine Zeugnisse der Volksschule zeigen; ich hoffte allerdings, dass ihn meine elenden Leistungen abschrecken, und dass er mich zurückweisen würde, allein dem war nicht so …
»Soweit bei Jakobs Leistungen die Einschulung in ein Gymnasium überhaupt möglich ist«, sagte Mama heuchlerisch; sie würde mich gegen alle Widerstände hier eingeschult haben, falls sie es sich in den Kopf gesetzt hatte. »Er soll eine klassische Bildung erhalten«, setzte sie nach. Ich fand es nur dumm, mich herauszustreichen, denn ich sah mehr als sie; dieser Mensch interessierte sich nicht für die Benotung meiner Leistungen; er hatte offenbar andere Gründe Schüler zu angeln. »Ah, ja, natürlich. Sie sind gewerbetreibend?«
»Meine Eltern sind es«, erklärte Mama. »Wie mein Gatte, Herr von Oe, gehöre ich augenblicklich der Luftabwehr bei der Außenstelle Weimar an«.
Der Direktor nickte, als habe er vorausgesehen, dass Mama von der Gewerbetreibenden zur Gräfin aufgestiegen war und gerade die Feindflieger am Himmel aufspürte, um sie der Vernichtung durch unsere Nachtjäger auszuliefern, was freilich leider nur noch selten gelang. Dann wechselte der Direktor das Thema. »Hat bei dem jungen Mann die Pubertät schon eingesetzt?«
Ausgeschlossen, das müsse sie als Mutter doch wissen, sagte Mama entschieden, die im Grunde ja nichts von mir wusste, die kaum sich selber kannte und der meine Entwicklung ebenso ein Rätsel gewesen seine dürften wie mir selber. Nebenbei bemerkt war ich bei der Entdeckung einiger Haare an den in Betracht kommenden Körperstellen von selbst darauf gestoßen, dass sich in mir etwas fürchterlich Neues abspielte.
»Glauben Sie einem alten Schulmann, es gibt mehr Dinge in einem Pennälerleben, als wir uns träumen lassen«, erklärte der Direktor überzeugt. Da es Zeit wurde einzugreifen, weil ich plötzlich Lust verspürte, in dieser Einrichtung aufgenommen zu werden, wenn auch nur, um zu erfahren, was Pubertät bedeutete, sagte ich mit fester Stimme, dass ich mich freuen würde auf die Hohe Schule zu kommen, dass es immer mein sehnlichster Wunsch gewesen sei, der höheren Bildung teilhaftig zu werden. Misstrauisch beäugte mich der Schulmensch; er traute mir sichtlich nicht, womit er durchaus recht hatte. Ein solches Schülerexemplar mag ihm in vierzig Jahren nicht vorgekommen sein. Er zog einen Fragebogen aus der Schublade, legte ihn vor sich hin und trug die Daten unserer äußeren Verhältnisse ein, Adresse und Geburt, was alles in einen Fragebogen gehört. Bis zu der Frage, ob ich schon Mitglied des Deutschen Jungvolkes sei, ging alles gut. Es entstand eine Pause und ich dachte, was kommt nun noch? Sich zurücklehnend, beherrscht aber siegesgewiss mit dem Bleistiftende auf die Tischplatte klopfend, sprach der Direktor leichthin verschlagen genug, es fehle nur noch eine Kleinigkeit, der arische Nachweis, wie er nunmehr laut Gesetz von jedem vollwertigen jungen Deutschen verlangt werde, zum Schutze des deutschen Blutes. Anders gehöre der jeweilige Kandidat in eine Konfessionsschule, ja wenn sich denn hier noch eine finde, was man im Schulamt beim Rathaus erfragen könne. Wie sie wisse, dürften Juden und Mischlinge in keine deutsche Schule mehr aufgenommen werden. »Aber«, sagte er still, »es ist ja noch Zeit genug, bis zu seiner Umschulung, das Rassezeugnis zu beschaffen.«
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