Die eine oder andere könnte sich dennoch wiedererkennen. Ich gehe davon aus, dass das in Ordnung ist.
Ich wähle durchweg das generische Femininum, also stets die weibliche Form, wenn es um eine gemischtgeschlechtliche Gruppe geht.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Ashara Kuckuck
Berlin, im August 2014
Geschichten um die Großmeister des Usui-Systems der natürlichen Heilung
Die Entstehungsgeschichte von Reiki hörte ich 1984 zum ersten Mal. Peter Didaskala, mein Lehrer für den I. Reikigrad, erzählte sie uns zu Beginn unserer Einweihung. Schon immer war es Tradition gewesen, dass Reikimeisterin und Reikimeister die Geschichte mündlich überlieferten, so wie sie selbst sie von ihren Reikimeisterinnen gehört hatten. Es gab bis dahin keine Bücher oder Texte dazu. Lediglich ein kleines Handbuch, das wir zum Schluss unseres Kurses erhielten.
Ich erzähle hier also die Legende von Doktor Usui, seinen Gefährtinnen und Nachfolgerinnen, so wie ich sie von meinem Reikimeister in Erinnerung habe – und mit dem heutigen Verständnis nach 25 Jahren mit Reiki.
Doktor Usui lebte um 1900 herum in Tokio, Japan. Er war ein vielseitiger, ungewöhnlicher Mann, was sich unter anderem darin zeigte, dass er in einem buddhistischen Land als konvertierter Christ lebte. Als Lehrer unterrichtete er an einer Jungenschule die Bibel. Usui war überzeugt davon, dass jedes Wort der Heiligen Schrift stimme und wörtlich zu nehmen sei. Und dies wollte er den Schülern des spirituellen Internats nahebringen.
Nun stelle ich mir vor, dass sich auch japanische Internatsschüler – wie wahrscheinlich Schüler überall auf der Welt – einen Spaß daraus machen, ihre Lehrerinnen und Lehrer zu ärgern.
Eines Nachts kamen die Schüler zusammen, um etwas ganz Spezielles auszuhecken. Am nächsten Morgen saßen sie etwas müde, aber feixend im Unterricht. „Usui, dürfen wir etwas fragen?“ Usui reagierte hocherfreut – wie jeder Lehrer, dessen Schüler bei der Sache sind – und ließ sie fragen.
„ Usui, du sagst doch, und du bist ganz sicher, dass alles, was in der Bibel steht, wörtlich zu nehmen ist. Stimmt das, haben wir das richtig verstanden?“ Usui stimmte zu. „Usui, in der Bibel steht, alle Menschen sind gleich.“ Usui stimmte zu. „Usui, in der Bibel steht, Jesus ist Gottes Sohn, jedoch ein Mensch wie du und ich. Also ein richtiger Mensch, zwar ein auserkorener, besonderer Mensch, doch ein Mensch. Haben wir das richtig verstanden?“ Usui stimmte interessiert zu. „Usui, in der Bibel steht auch, dass Jesus so etwas wie Wunderheilung bewirkt hat. Ein Lahmer konnte wieder gehen, nachdem er ihn berührt hatte. Ein Blinder konnte sehen. Sogar ein Mädchen aus dem nächsten Dorf wurde wieder gesund, als Jesus sich darauf konzentrierte. Er hat also mit seinen Händen und seinen Gedanken heilen können. Usui, haben wir das richtig gelesen?“ Usui stimmte, langsam nachdenklich werdend, zu. „Usui, wenn das so ist, wenn Jesus ein Mensch ist, heilen konnte und alle Menschen gleich sind, dann müssen wir auch heilen können, oder? Usui, wenn wir die Bibel ernst nehmen sollen, dann musst du uns zeigen, wie das geht.“
Usui wurde ganz ruhig. Er bedankte sich bei den Jungen für die interessanten Ausführungen und gab zu, dass er auf Anhieb keine Antwort parat habe. Er bat sich Zeit zum Nachdenken aus. In der kommenden Nacht war Usui derjenige, der wach blieb. Am nächsten Morgen trat er vor seine Schüler.
„ Ihr habt interessante Fragen gestellt, und ich kann euch die Entscheidende nicht beantworten. Das heißt jedoch nicht, dass es keine Antwort darauf gibt. Ihr bleibt hier, betreibt eure Studien und lernt weiter. Ich gehe in die Welt hinaus und begebe mich auf die Suche. Ich bin davon überzeugt, dass es eine Antwort gibt. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch die Fähigkeit zur Heilung hat. Ich weiß nur noch nicht, wie es funktioniert.“
Usui packte seine Sachen und ging zunächst nach Amerika, wo er Fächer studierte wie Philosophie, Theologie, Sanskrit und alles, was thematisch im Umfeld seines Interesses lag. Er bekam Ehren- und Doktortitel, lernte viel und gerne. Nach einigen Jahren hielt er inne und ging mit sich in Klausur. Er war ja auf der Suche nach einer bestimmten Erkenntnis, und es schien so, als ob er der Antwort während des Studiums nicht nähergekommen war. Er musste einen neuen Weg einschlagen. Anfang des Jahres 1922 ging er nach Japan zurück, in ein Zen-Kloster auf dem Lande.
Zen ist eine unorthodoxe, spirituelle Strömung, die sich aus dem Buddhismus heraus entwickelt hat.
Ein Freund von ihm leitete dieses Kloster und nahm Usui auf. Er lebte dort auf einfache Weise, wusch seine Wäsche, kochte Essen, bestellte den Garten, schlief und meditierte nach Art des Hauses. Das Ziel war, sich zu leeren durch die alltäglichen Verrichtungen des Tages sowie durch die Meditation zu größtmöglicher Einsicht und Erleuchtung zu gelangen. Usui hoffte, auf diesem Wege zu Erkenntnis und der Antwort auf seine Frage zu gelangen. Da Usui ein studierter Mann war, bat ihn sein Freund, der Leiter des Klosters, um einen Gefallen. Er möge sich doch die Schriftrollen, die schon seit ewigen Zeiten in diesem Kloster lägen und die niemand lesen könne, einmal ansehen. Vielleicht sei er in der Lage, sie zu deuten. Usui begab sich mit ihnen in sein Zimmer. Nach einiger Zeit kam er freudestrahlend zu seinem Freund zurück, vor Aufregung zitternd: „Weißt du was? Das sind Symbole, mit denen Buddha geheilt hat.“
Siddhartha Gautama Buddha wurde rund 500 Jahre vor Jesus in Lumbini, im heutigen Nepal geboren. Seine Lehre hat den Buddhismus begründet. Ebenso wie Jesus hatte er Kraft seiner Gedanken und seiner Berührungen Veränderungen an Menschen bewirkt, die diese als Heilwunder bezeichneten.
Usui und sein Freund beschäftigten sich nochmals ausgiebig mit den Schriftrollen. Die Heilsymbole waren aufgezeichnet und sogar benannt. Allerdings blieben Fragen offen: Wie ließen sie sich anwenden? Und was konnte durch sie erreicht werden? Einerseits spürte Usui große Freude, denn endlich hatte er etwas Konkretes gefunden. Andererseits war er tief enttäuscht, weil er noch nicht am Ziel war. Also beschloss er, auf den heiligen Berg Kurama bei Kyoto zu steigen, um dort, nach Sitte des Landes, 21 Tage zu fasten und zu meditieren. Es heißt, er habe seinem Freund zum Abschied gesagt: „Wenn ich nach 3 Wochen nicht wiederkomme, dann kannst du meine Gebeine einsammeln.“ Mit anderen Worten: Er war absolut entschlossen, eine Antwort zu finden. Auf dem Weg zum Berg hinauf sammelte er 21 Kieselsteine ein. Oben angekommen, legte er sie vor sich hin und meditierte. Jeden Abend warf er einen Stein hinunter. So würde er wissen, wann die 21 Tage verstrichen waren.
Die Zeit verging. Die Steine fielen. Nichts passierte. Usui staubte ein, sein Bart wurde länger und er resignierte fast. Am Abend des 21. Tages zog zusätzlich zu aller Pein auch noch ein Gewitter am Horizont auf. Usui überlegte kurz, ob er abbrechen sollte; während eines Gewitters auf einem Berg zu sitzen, das erschien ihm als keine gute Idee. Aber er brach nicht ab. Das Gewitter näherte sich ihm, ein Kugelblitz löste sich aus dem Himmel, schoss auf ihn zu und schlug in ihn ein. Usui verlor das Bewusstsein. Am nächsten Morgen wachte er erfrischt und freudig erregt auf. In der Nacht hatte er eine Vision gehabt: Er hatte gesehen, wie er mit seinen Händen und den Symbolen Heilung schaffen konnte. Er war angekommen. Sein Ziel war erreicht. Aufgeregt lief er den Berg hinunter, kam jedoch nicht weit, weil er über eine herausragende Baumwurzel stolperte und sich den Fuß verstauchte.
Usui legte mit all seiner Leidenschaft und Energie die Hände auf die schmerzende Stelle und gab sich zum ersten Mal selbst Reiki. Nach kurzer Zeit war der Schmerz vergangen.
Читать дальше