Noéra wusste nicht wie lange sie so bei Amaté gestanden hatte, doch als sie plötzlich hörte wie das große Tor geöffnet wurde und Mr. Christie zwei Herren, es schienen Vater und Sohn zu sein, begrüßte, verabschiedete sie sich widerstrebend von dem Hengst. Sie wäre gerne noch länger geblieben, doch auch ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass es höchste Zeit war, nach Hause zu gehen. Sie hatte sich schließlich nicht abgemeldet und ihre Eltern würden mit Sicherheit verärgert sein dass sie unentschuldigt nun auch noch das Mittagessen verpasst hatte. Sie legten nämlich größten Wert darauf, dass die Mahlzeiten von der Familie gemeinsam eingenommen wurden. Daher streichelte Noéra dem Hengst noch einmal über die glänzende, lange Mähne und flüsterte ihm einen Abschiedsgruß zu. Dann verließ sie eilig den Stall um Mr. Christie nicht zu stören.
Für den Rückweg ließ sie sich Zeit. Eigentlich hatte sie es nicht eilig nach Hause zurück zu kommen. Daher brauchte sie für den Weg dieses Mal fast eine Stunde. Als sie schließlich zu Hause ankam wurde ihr die Haustür bereits von Margaret, Sarahs Mutter und Köchin der Haydens, geöffnet.
„Da bist du ja. Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Aber komm erst einmal herein.“
„Danke, Margaret“, erwiderte Noéra. „Sind meine Eltern sehr böse?“
„Nun, das waren sie, ja. Aber jetzt machen sie gerade einen Spaziergang. Sie wollten dir eigentlich auch nichts zu essen aufheben, doch ich habe dir ein paar Kartoffeln und ein wenig Salat beiseite gestellt. Komm am besten gleich mit in die Küche.“ Dabei zwinkerte Margaret Noéra kurz zu.
„Vielen Dank. Das ist wirklich lieb von dir.“ Dankbar folgte Noéra Margaret in die Küche. Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie eigentlich war. Sie hatte seit dem Frühstück, das schon einige Stunden zurücklag, nichts mehr gegessen.
Als Noéra gerade mit essen fertig war hörte sie wie die Haustüre aufging und ihre Eltern zusammen mit ihrer Schwester zurückkamen. Sie wappnete sich innerlich bereits für die bevorstehende Rüge ihrer Eltern, doch es kam nichts dergleichen. Ihre Eltern begrüßten sie ganz normal als Noéra ihnen in der Halle entgegen trat, ganz so als sei nichts geschehen. Nur ihre Schwester sah sie grimmig an.
„Du hast Glück. Sie haben ihren Ärger bereits an mir ausgelassen.“ Als Noéra sie daraufhin fragend ansah lächelte Lydia jedoch und gab ihr mit einer Geste zu verstehen dass alles in Ordnung war. Noéra fragte nicht weiter nach. Sie war froh sich keine weitere Standpauke anhören zu müssen. Dies war einer der wenigen Momente, in denen sie ihre Schwester doch ganz gern mochte.
Die folgenden Wochen bis zu Lydias Hochzeit waren äußert betriebsam im Hause Hayden. Nicht nur die Angestellten Margaret und Sarah hatten einiges zu tun, sondern auch Lydia und Noéra, sowie ihre Mutter. Noéra war für die Dekoration verantwortlich, da sie ein feines Händchen für Stilvolles hatte, wie ihre Schwester betonte und Noéra erfüllte ihr diesen Wunsch gerne. Also machte sie sich, nachdem Lydia ihre farblichen Wünsche geäußert hatte, auf die Suche nach geeignetem Material. Dazu machte sie sich mehrmals auf den Weg in die Stadt, wobei sie oftmals von Sarah begleitet wurde. Neben mehreren Terminen beim Floristen besorgten sie gemeinsam Tischdecken, Kerzen und allerlei Bänder und Bordüren. Außerdem nutzte Noéra diese Gelegenheiten dazu, hin und wieder nicht nur an der Bibliothek vorbeizugehen, sondern auch um Mr. Christie aufzusuchen und nach Amaté zu sehen. Anfangs war der Pferdehändler zwar sehr verwundert und Noéra war sich nicht sicher ob es ihm recht war, dass sie hin und wieder vorbeikam, doch schließlich schien er sich daran zu gewöhnen und begrüßte Noéra irgendwann sogar schon ganz selbstverständlich. Sie störte ihn schließlich nicht und warum sollte er ihr also verbieten den Hengst zu besuchen? Und wer weiß, man konnte ja schließlich nie wissen ob ihr Vater nicht doch irgendwann einmal ein Pferd kaufen wollte. Er konnte nur nicht so recht verstehen was sie ausgerechnet an diesem ausgesprochen wilden und ungestümen Hengst fand, der ihm selber nichts als Probleme bereitete. Aber so lange er ohnehin noch keinen Interessenten für ihn hatte sollte die junge Frau den Hengst ruhig weiter besuchen. Sie schien nämlich eine sehr beruhigende Wirkung auf ihn zu haben, wie Mr. Christie zufrieden feststellte.
Auch an diesem Nachmittag verabschiedete Noéra sich unterwegs, nachdem alle Besorgungen getätigt waren, von Sarah und schickte sie alleine nach Hause. Sie gab vor, noch bei einer alten Schulfreundin vorbeigehen zu wollen. Eigentlich wollte sie Sarah nicht belügen und es tat ihr leid, ihrer Freundin nicht die Wahrheit zu sagen, doch sie wollte Sarah nicht in eine Lage bringen in der sie ihre Eltern womöglich belügen musste um Noéra zu schützen. Und Noéras Eltern durften unter keinen Umständen erfahren, dass Noéra heimlich den Hengst besuchte. Daher hielt sie es für besser, Sarah aus dieser Sache herauszuhalten.
Als Noéra an diesem Tag den Stall wieder verließ begann es schon leicht zu dämmern. Sie war später dran gewesen da die Besorgungen länger gedauert hatten als erwartet. Und sie war ein wenig länger bei Amaté geblieben als sonst üblich, denn als sie gekommen war, war der Hengst völlig außer sich gewesen und es hatte lange gedauert bis es Noéra gelungen war, ihn wieder zu beruhigen. Sie hätte gerne gewusst, was vorgefallen war.
Daher beeilte sie sich nun, nach Hause zu kommen. Denn auch dort wartete noch Arbeit auf sie, da die Hochzeit bereits in drei Tagen stattfinden würde. Auch deshalb hatte sie heute ein wenig mehr Zeit bei Amaté verbracht, denn jetzt würde es einige Zeit dauern bis sie das nächste Mal die Gelegenheit haben würde ihn zu besuchen.
Als Noéra den Stall verlassen und sich auf den Rückweg gemacht hatte, hatte sie für einen Moment lang das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Doch als sie sich daraufhin umgeschaut hatte war niemand zu sehen gewesen und auch das seltsame Gefühl war wieder verschwunden gewesen. Kopfschüttelnd war Noéra weitergegangen. Das hatte sie sich bestimmt nur eingebildet.
Am Tag der Hochzeit, einem Samstag, herrschte bereits am Morgen helle Aufregung im Haus der Haydens. Ausgelöst wurde diese durch einen gellenden Aufschrei Lydias, der durch das ganze Haus hallte. Noéra saß noch zusammen mit Sarah in der Küche, wo sie ein spärliches Frühstück aus Tee und Marmelade einnahm. An diesem Tag war keine Zeit um das Frühstück gemeinsam mit der Familie und in Ruhe einzunehmen. Und auch Margaret konnte dieses Mal nicht allzu viel Zeit darauf verwenden, ein ausgiebiges Frühstück zuzubereiten, denn sie war bereits seit dem Morgengrauen mit den Vorbereitungen der Häppchen beschäftigt, die nach der Trauung vor der Kirche gereicht werden sollten. Auch Sarah hatte nur einen kurzen Moment Zeit um Noéra Gesellschaft zu leisten. Dann musste sie ihrer Mutter wieder zur Hand gehen. Die beiden würden erst mittags Unterstützung für die Zubereitung des Tees und vor allem des Abendessens erhalten.
Als sie den Aufschrei ihrer Schwester hörte schreckte Noéra zusammen und sprang sofort von ihrem Stuhl auf um in die Halle und weiter ins obere Stockwerk zu eilen. Schon bevor sie Lydias Zimmer erreichte vernahm sie die aufgeregte Stimme ihrer Schwester und die beruhigend auf sie einredende Stimme ihrer Mutter. Doch auch in der Stimme ihrer Mutter schwang Nervosität mit und sie wandte sich ruckartig um als Noéra die Zimmertüre öffnete und eintrat.
„Ah, gut dass du kommst. Hilf mir hier mal.“
Hastig winkte ihre Mutter Noéra zu sich und Lydia, die, den Tränen nahe, vor ihrem Spiegel stand. Noéra tat wie ihr geheißen und als sie zu den beiden trat erkannte sie sofort, was geschehen war. Während Lydia ihr Hochzeitskleid angezogen hatte, hatte sich eine der Nähte gelöst und nun saß das Kleid an der Taille überhaupt nicht mehr. Jane Hayden hatte bereits damit begonnen, das Kleid mit einigen Nadeln abzustecken. Auch das Garn lag schon bereit, doch die Augen ihrer Mutter waren nicht mehr die besten, obwohl sie sich dennoch weigerte, eine Brille zu tragen. Daher sollte Noéra das Nähen übernehmen. Um die Schneiderin noch einmal kommen zu lassen fehlte die Zeit. So nahm Noéra schließlich widerstrebend Nadel und Faden entgegen, die ihre Mutter ihr reichte. Sie hatte Angst die Naht nicht gut genug flicken zu können und fürchtete, ihre Schwester sei dann unzufrieden und böse mit ihr, doch als sie ihre Bedenken laut aussprach versicherte Lydia ihr, dass sie das ganz sicher perfekt nähen würde und sie ihr für ihre Hilfe ewig dankbar sein würde. Was blieb Noéra also Anderes übrig? Seufzend kniete sie sich neben ihrer Schwester auf den Boden und begann zu nähen. Lydia hatte sich geweigert, das Kleid noch einmal auszuziehen aus Angst, es könne noch etwas passieren. Noéra wurde die Arbeit dadurch zwar erheblich erschwert, sie beklagte sich jedoch nicht. Die Nerven ihrer Schwester lagen ohnehin blank und die ihrer Mutter ebenfalls, da wollte wenigstens sie ruhig bleiben. Sie arbeitete konzentriert und schnell und nach kurzer Zeit war sie fertig und die Naht wieder in Ordnung. Ihre Mutter schloss nun sämtliche Knöpfe und Haken des Kleids und Lydia drehte sich vor dem Spiegel mehrmals um ihre eigene Achse.
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