„Oh Mr. Christie“, erwiderte Martha mit einem Lächeln. „Sie ist leider weder das eine noch das andere. Sie ist die jüngste Tochter von Professor Hayden, einem guten Freund von uns, und sie interessiert sich sehr für Pferde, ganz im Gegensatz zum Rest ihrer Familie.“ Dabei lächelte sie Noéra verschwörerisch zu, woraufhin Noéra sich nun selbst vorstellte.
„Mein Name ist Noéra Hayden. Ich hoffe es ist in Ordnung, dass ich mitgekommen bin.“
„Aber selbstverständlich. Sieh dich ruhig ein wenig um, Mädchen.“
Dann wandte Mr. Christie sich wieder den Gillivans zu und ging ihnen voraus zu den Pferden. Noéra nahm ihm diese vertrauliche Anrede nicht weiter übel. Sie war sogar froh darüber, dass er in keiner Weise darauf eingegangen war als Martha ihren Vater erwähnt hatte. Mr. Christie kannte Professor Hayden zweifellos zumindest dem Namen nach, das hatte Noéra an dem kurzen, interessierten Aufblitzen seiner Augen gesehen. Und schließlich war Professor Hayden einer der angesehensten Einwohner der Stadt. Aber warum sollte das Mr. Christie auch interessieren? Jedenfalls ließ Noéra es sich nicht zweimal sagen und folgte den anderen zu den Pferden. Während Mr. Christie die Gillivans scheinbar gezielt zu seinen neu erworbenen Pferden führte blieb Noéra an jeder Pferdebox stehen und sah sich die Pferde an. Die Boxen waren klein und einige der größeren Pferde konnten sich nur mit Mühe um ihre eigene Achse drehen, was Noéra sogleich Mitleid mit ihnen empfinden ließ. Aber wenigstens sahen die Pferde alle gut genährt und gesund aus. Manche der Pferde waren sehr neugierig und zutraulich, sodass Noéra ein wenig länger verweilte und sie vorsichtig streichelte. Andere dagegen zeigten keinerlei Regung, selbst wenn sie sie ansprach. Auf einmal wurde Noéra jedoch von dem dunkelbraunen Wallach, den sie gerade beim Fressen beobachtete, abgelenkt. Aus der hintersten Ecke des großen Stalls war auf einmal ein furchtbares Poltern zu hören. Gleich darauf wurde eine Boxentüre zugeknallt und Noéra vernahm ein leises Fluchen. Dann war wieder das nervöse Stampfen eines Pferdes zu hören. Noéras Neugierde war geweckte und sie ging langsam in die Richtung aus der das Geräusch kam. Von einer der Boxen kam nun ein junger Bursche auf Noéra zugeeilt, dessen Gesicht vor Zorn, aber auch vor Schreck verzerrt war. Fluchend ging er an Noéra vorbei, würdigte sie aber keines Blickes.
„So ein Satansbraten“ war alles, was Noéra verstehen konnte. Sie sah dem Jungen, der wohl Mr. Christies Sohn sein musste, einen Moment verwundert hinterher, dann ging sie zu der Box von der der Bursche gekommen war. Langsam ging sie immer weiter bis sie schließlich leise vor der Box stehen blieb und erstaunt die Augen aufriss als sich das Pferd darin steil aufbäumte und dann erneut auf den mit Stroh bedeckten Boden stampfte. Die dunklen Augen des Pferdes schienen vor Zorn zu funkeln. Oder war es nicht nur Zorn sondern auch ein Funken Angst, den Noéra in diesen ausdrucksstarken Augen erkannte? Vorsichtig trat Noéra ein Stück näher an die Box. Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass das möglicherweise gefährlich war, doch irgendetwas an diesem Pferd zog sie geradezu magisch an und sie empfand keinerlei Angst. Ein solch schönes und edles Pferd hatte sie noch nie gesehen und sie erkannte gleich, dass es sich um einen noch recht jungen Hengst handelte. Er hatte ein außergewöhnlich hellbraunes, fast beigefarbenes Fell, das im spärlichen Licht der Deckenbeleuchtung des Stalls golden schimmerte. Seine lange Mähne und der dichte Schweif dagegen waren dunkelbraun, ebenso wie das Fell an seinen Beinen. Noéra konnte jedoch ihren Blick nicht von den Augen des Hengstes wenden, der noch immer nervös war und auf den Boden stampfte. Als Noéra ihn leise und beruhigend ansprach wandte der Hengst ihr blitzartig seine Aufmerksamkeit zu und dann geschah etwas Erstaunliches. Der Hengst schnaubte einmal kurz, während er Noéra gebannt fixierte, dann wurde er plötzlich ganz ruhig und trat vorsichtig zu Noéra an die Boxentüre. Ganz behutsam beschnupperte er Noéra und berührte sie schließlich sanft am Arm, woraufhin Noéra ihn ebenso sanft streichelte, was der Hengst sichtlich genoss. Immer und immer wieder ließ Noéra ihre Hand über das seidige Fell des Pferdes gleiten während der Hengst seinen edlen Kopf vertrauensvoll an Noéras Schulter ruhen ließ. Es war ein ganz außergewöhnlicher Moment. So etwas hatte Noéra noch nie erlebt, doch sie wusste dass dieser Hengst etwas Besonderes war. Zwischen ihnen schien irgendein unsichtbares Band zu existieren. Für einen langen Moment vergaß Noéra alles um sich herum und erst die aufgeregt Stimme Mr. Christies, der gefolgt von den Gillivans auf sie zu geeilt kam, holte sie in die Realität zurück.
„Seien Sie vorsichtig, Miss Hayden, und gehen Sie bitte ein Stück zurück. Er ist gefährlich.“ Vor Aufregung sprach Mr. Christie Noéra nun respektvoller an.
„Gefährlich?“, fragte Noéra tonlos, ließ ihre Hand dabei aber weiter auf dem Hals des Hengstes ruhen, der nun zwar argwöhnisch die Ohren spitzte, jedoch ganz ruhig bei Noéra stehen blieb. Als er das sah blieb Mr. Christie abrupt ein Stück von Noéra und dem Hengst entfernt stehen. Die Gillivans taten es ihm gleich.
„Nun, seit ich den Hengst vor einer Woche hierher geholt habe macht er mir nichts als Probleme“, sagte Mr. Christie. „Er ist ein wahrer Teufel und man muss ständig auf der Hut sein damit er einen nicht angreift. – So ruhig wie jetzt habe ich ihn noch nicht erlebt. Was haben Sie nur mit ihm gemacht, Miss Hayden?“
„Nichts“, erwiderte Noéra mit ruhiger Stimme. „Er hat nur Angst.“
Und nach einem kurzen Moment des Schweigens fügte sie noch hinzu: „Ich finde ihn ganz bezaubernd. Er ist wunderschön. – Wie ist sein Name?“
Mr. Christie sah sie überrascht an. Er war erstaunt darüber, dass sich diese junge Frau derart über den Hengst äußerte.
„Er ist in der Tat eines der schönsten und außergewöhnlichsten Pferde die ich je hatte, mit einer erstklassigen Abstammung. Er kommt direkt aus Südspanien. Sein Name ist Amaté. Ich hatte vor, ihn für eine hübsche Summe zu verkaufen, doch so wie es aussieht wird ihn wohl niemand haben wollen. Das Biest ist unberechenbar und schlägt jeden in die Flucht – naja, fast jeden. Wenn sich daran nichts ändert wird er wohl ein Fall für den Metzger sein.“
„Nein!“, entfuhr es Noéra entsetzt und der Hengst hob erschrocken den Kopf und legte die Ohren an.
„Kommen Sie da weg, Miss Hayden“, rief Mr. Christie und wollte Noéra fortziehen, doch sie hob abwehrend die Hand.
„Nicht. Er wird mir nichts tun.“ Noch immer lag Noéras Hand auf dem Hals des Hengstes, der sich sofort wieder beruhigte. Mr. Christie hielt inne.
„Das mit dem Metzger war nicht ernst gemeint, oder?“, fragte Noéra leise, woraufhin Mr. Christie angespannt lachte.
„Nun, eine Weile werde ich ihn schon noch behalten. Er hat mich schließlich viel Geld gekostet. – Vielleicht möchte Ihr Vater Ihnen den Hengst ja schenken.“
Traurig wandte Noéra den Blick wieder zu dem Hengst um.
„Wohl kaum“, antwortete sie leise.
Noch einmal streichelte sie dem Hengst über den Hals.
„Amaté“, flüsterte sie ihm zu, dann zog sie ihre Hand zurück. Sofort trat wieder eine gewisse Unruhe in die Augen des Pferdes und er wich in eine Ecke seiner Box zurück. Als sie das sah brach es Noéra beinahe das Herz und es fiel ihr schwer, sich Martha und Roger, die sich bereits mit Mr. Christie einig geworden waren und gehen wollten, anzuschließen. Sie wäre gerne noch ein wenig geblieben, doch sie wusste dass das auch nichts geändert hätte. Noch einmal wandte sie sich zu dem Hengst um, dann ging sie mit den anderen mit. Amaté, wir werden uns wiedersehen, dachte Noéra bevor sie den Stall schließlich verließen.
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