„Da bist du ja endlich“, wurde Noéra am Fuß der Treppe von ihrer Schwester begrüßt. „Wegen dir kommen wir noch zu spät.“
Noéra zuckte jedoch nur mit den Schultern und ging zur Haustür, die offen stand da ihre Eltern bereits zur Kutsche vorausgegangen waren. Sie wollte nicht mit ihrer Schwester streiten. Ihrerseits schweigend folgte Lydia Noéra zur Kutsche und als sie beide eingestiegen waren gab Robert Hayden dem Kutscher das Signal loszufahren. Mit einem Ruck setzte sich der leichte Zweispänner, der von zwei Braunen gezogen wurde, in Bewegung und rollte in zügigem Tempo durch die Straßen von Wilchester.
„Hübsch seht ihr beiden aus“, lobte Jane Hayden ihre Töchter und betrachtete sie anerkennend. Während Lydia sich wie ein kleines Kind über dieses Lob ihrer Mutter freute sah Noéra weiterhin starr aus der Kutsche hinaus und beobachtete die an ihr vorüber ziehende Landschaft. Jane Hayden war sehr zufrieden mit ihren beiden Töchtern, waren sie auch noch so verschieden. Beide waren äußerst hübsch und wohlerzogen. Lydia mit ihrem blonden Haar, dem hübschen herzförmigen Gesicht und den strahlend blauen Augen war ihr Liebling, das konnte sie nicht leugnen. Sie war ihr selbst sehr ähnlich und es hatte nie Probleme zwischen ihnen gegeben. Anders als mit Noéra. Ihre jüngere Tochter war ganz anders als ihre Schwester und sie erschien ihr manchmal fremd. Noéra hatte ihren eigenen Kopf und lehnte sich gegen sie auf. Ihr Verhältnis zueinander war oft schwierig, aber dennoch liebte Jane Hayden auch ihre zweite Tochter mit den hüftlangen, dunkelbraunen Locken und den außergewöhnlich bernsteinfarbenen Augen. Und sie war sich sicher dass auch Noéra bald einsehen würde dass sie nur das Beste für sie wollte.
Der Empfang bei den Gillivans heute war eine gute Gelegenheit, weiter nach einem geeigneten Verehrer für Noéra Ausschau zu halten. Wobei sie sich eigentlich sicher war, bereits den passenden Mann für sie gefunden zu haben. Nun musste sie ihre Tochter nur noch von ihrer Wahl überzeugen. Das bereitete ihr zuweilen Kopfzerbrechen, zumal sie von ihrem Gatten nur wenig Unterstützung in dieser Angelegenheit erwartete. Er ließ ihr dabei „völlig freie Hand“, wie er ihr immer wieder versicherte. Jane war sich jedoch bewusst dass er vermeiden wollte, ebenfalls mit Noéra aneinander zu geraten. Hatte er früher immer Wert auf eine strenge Erziehung seiner Töchter gelegt, so war Jane in den vergangenen Jahren immer öfter aufgefallen dass er nachsichtiger geworden war und jedem Streit, nicht nur mit seinen Töchtern, aus dem Weg ging. Dabei hätte sie in diesem Fall gerne seine Unterstützung gehabt. Vielleicht würde Noéra eher auf ihren Vater hören. Dennoch ließ sie sich davon nicht entmutigen. Sie würde Noéra schon überzeugen. Sie war schließlich ihre Mutter! Und beim Empfang der Gillivans würde sie damit beginnen. Zufällig wusste sie nämlich sehr genau wer auf der Gästeliste stand.
Etwa eine halbe Stunde später erreichte die Kutsche das schön gelegene Haus der Gillivans. Das große, weiß getünchte Haus mit dem urigen Reetdach lag am Ende einer langen Allee zwischen ausgedehnten Wiesen und war von hohen Bäumen umgeben. Vor dem Haus standen bereits zahlreiche andere Kutschen. Milton, der Kutscher, brachte die Pferde vor der Eingangstreppe zum Stehen und öffnete eine der Flügeltüren. Robert Hayden stieg als Erster aus der Kutsche und half anschließend seiner Frau und den beiden Mädchen beim Aussteigen. Dann reichte er Jane seinen Arm und sie gingen, gefolgt von ihren Töchtern, die Treppe zum Eingang hinauf, wo sie der Butler der Gillivans in Empfang nahm und zur Wiese hinter dem Haus führte, wo sie herzlich von Martha und Roger begrüßt wurden.
„Wie schön dass ihr hier seid“, empfing Martha sie mit einem strahlenden Lächeln. Der Reihe nach umarmte sie die Haydens. Nachdem sie Noéra an sich gedrückt hatte schob sie sie einen halben Schritt von sich und betrachtete sie glücklich.
„Du bist noch hübscher geworden seit unserem letzten Zusammentreffen“, sagte sie leise, damit die anderen es nicht hören konnten und strich Noéra flüchtig über die Wange. Noéra erwiderte Marthas Lächeln.
„Es ist so schön endlich wieder hier zu sein. Das letzte Mal ist bereits viel zu lange her.“
„Da hast du recht“, antwortete Martha. „Du musst dir später unbedingt die Pferde ansehen. Sie werden sich über deinen Besuch bestimmt ebenso freuen wie ich.“
„Das werde ich“, versicherte Noéra mit leuchtenden Augen, denn sie hatte die Pferde sehr vermisst.
Martha Gillivan hatte ihr vor einigen Jahren das Reiten beigebracht und Noéra hatte ihre Leidenschaft für diese wundervollen Tiere entdeckt. Noéras Eltern waren anfangs zwar dagegen gewesen Noéra reiten zu lassen, doch die Gillivans, die beide passionierte Reiter waren, hatten Jane und Robert Hayden schließlich überzeugt, wofür Noéra ihnen unendlich dankbar war. Sie bedauerte zu Hause in der Stadt keine Möglichkeit zum Reiten zu haben. Umso mehr freute sie sich nun jedoch auf die Pferde. Doch zunächst musste sie erst einmal einige der anderen Gäste begrüßen und folgte ihren Eltern und ihrer Schwester widerstrebend. Lächelnd schüttelte sie Hände und tauschte Höflichkeitsfloskeln aus. Schon nach kurzer Zeit fiel es Noéra zunehmend schwer, die Maskerade aufrecht zu erhalten und sich mit all den Leuten zu unterhalten, obwohl sie sich viel lieber heimlich zurückgezogen hätte. So freundlich sich all diese Leute auch gaben war Noéra sich doch sicher dass es den meisten von ihnen nur darum ging, sich hier sehen zu lassen, aber kaum einer interessierte sich wirklich für seinen Gegenüber. Für die meisten schien es nur eine weitere Gelegenheit zu sein, ihre teure Garderobe zu tragen und sich über Oberflächlichkeiten zu unterhalten. Noéra riss sich jedoch zusammen, atmete tief durch und fügte sich ergeben in ihr Schicksal. So auch als ihre Mutter kurze Zeit später in Begleitung Henrys auf sie zukam.
Henry war der Sohn eines Kollegen von Noéras Vater und es war bereits abzusehen dass Henry in die Fußstapfen seines Vaters treten würde und bald ebenfalls an der Universität unterrichten würde. Er war etliche Jahre älter als Noéra und sie waren einander bereits vor ein paar Wochen auf einem Ball vorgestellt worden. Noéra hatte gleich bemerkt dass ihre Mutter einen Narren an Henry gefressen hatte und dieser Eindruck verstärkte sich jetzt noch, als Jane Hayden mit einem vielsagenden Blick zu Noéra trat.
„Ah, das bist du ja, Noéra. Sieh mal wer ebenfalls hier ist.“ Bei diesen Worten wandte sie sich Henry aufmunternd zu.
„Guten Tag Henry“, begrüßte Noéra ihn höflich. „Wie schön, Euch zu sehen.“
„Die Freude ist ganz meinerseits, Miss Hayden.“ Bei diesen Worten verneigte Henry sich galant vor Noéra.
Sie unterhielten sich eine Weile zu dritt, doch dann schien Noéras Mutter auf einmal jemanden entdeckt zu haben, den sie unbedingt und sofort begrüßen musste und Noéra und Henry blieben alleine zurück. Das hatte sie ja geschickt eingefädelte, dachte Noéra grimmig. Was sollte sie jetzt denn nur mit Henry anfangen? Worüber sollten sie sich unterhalten? Henry war zwar ein recht netter Kerl, doch schon bei ihrem letzten Zusammentreffen wäre Noéra vor Langeweile beinahe vergangen, was Henry jedoch keineswegs aufgefallen war. Er war so in seinem Vortrag über eine Studie, an der er gerade arbeitete, aufgegangen, dass Noéra das Gefühl gehabt hatte, er würde sie gar nicht mehr wahrnehmen. Wenn der heutige Nachmittag auf ähnliche Art und Weise verlaufen sollte bemitleidete Noéra sich schon jetzt. Und es schien alles darauf hinzudeuten. Nachdem Henry sich nämlich kurz nach Noéras Befinden erkundigt hatte und wie es ihr seit ihrer letzten Begegnung ergangen war, begann er nun von sich und seinen Studien zu erzählen. Anfangs bemühte Noéra sich noch um eine interessierte Miene und stellte sogar ein paar vorsichtige Zwischenfragen, wenn auch nur in dem Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, was ihr jedoch nicht gelang, wie sie resigniert feststellte. Nach einer Weile ließ sie Henry einfach reden und hörte nur noch mit halbem Ohr zu.
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