Lawrence sah erschrocken auf als die Kutsche auf einmal mit einem Ruck zum Halten kam. Er hatte gedöst und fragte sich nun, ob etwas passiert war. Als er von seinem weich gepolsterten Sitz aufstand, den dunklen Vorhang beiseiteschob und aus dem kleinen Fenster der Kutsche nach draußen spähte sah er gerade noch, wie sein Herr in rasendem Tempo auf seinem Pferd davon stob. Verwundert sah Lawrence ihm hinterher und lauschte dann in die Nacht hinaus. Es war alles völlig still. Vorsichtig öffnete er die schmale Türe der Kutsche und stieg aus, doch es fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Er wunderte sich über diese unverständliche Handlung seines Herrn, besann sich dann jedoch und stieg eilig wieder in die Kutsche und schloss die Türe. Sein Herr wäre niemals geflohen wenn Gefahr gedroht hätte. Doch ihm dämmerte auf einmal, was los sein musste und er wusste, was sein Herr in diesem Fall von ihm erwartete. Er verließ sich darauf, dass er, Lawrence, auf sie achtgab und dafür sorgte, dass es ihr gut ging und er würde seine Pflicht nicht vernachlässigen. Als er sie nun jedoch prüfend betrachtete stellte er zufrieden fest, dass sie noch immer ganz ruhig schlief. Er sah noch einmal nach draußen, doch von seinem Herrn fehlte jede Spur. Also wartete Lawrence geduldig bei der jungen Lady, bis sein Herr sehr viel später zu ihnen zurückkehrte.
Lawrence trat ihm entgegen und nahm ihm die Zügel aus der Hand. Er war seinem treuen Diener dankbar, dass er keine Fragen stellte. Er ahnte jedoch, dass Lawrence genau wusste was los war. Das las er in den Augen des alten Mannes. Und er las noch etwas Anderes. Als sich ihre Blicke trafen gab Lawrence ihm wortlos zu verstehen, dass mit ihr alles in Ordnung war. Dankbar nickte er kurz, bevor er wieder auf den Kutschbock stieg. Nachdem auch Lawrence wieder eingestiegen war ließ er die Pferde antreten und sie fuhren weiter durch die Nacht.
Im Morgengrauen hielt er nach einem geschützten Platz Ausschau, an dem sie den Tag über rasten konnten. Erst gegen Abend, wenn die Dunkelheit ihnen Schutz bot, würden sie weiterfahren. Welch ein Glück, dachte er, dass die Tage jetzt im Spätherbst schon so kurz waren. So würden sie zügig vorankommen und bald zu Hause sein.
Als er einen geeigneten, gut versteckten Ort in einem hügeligen und dicht bewaldeten Gelände gefunden hatte ließ er die Pferde anhalten. Er spannte die beiden Kutschpferde aus und versorgte sie dann selbst. Es war ihm lieber, wenn Lawrence bei ihr blieb und er selbst beschäftigt war. Dann fiel es ihm wenigsten etwas leichter, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Dennoch warf er immer wieder verstohlene Blicke zu den Fenstern der Kutsche hinüber.
Lawrence beobachtete ihn eine Weile, dann stieg er trotz anders lautender Anweisung aus der Kutsche und trat zu ihm.
„Sir, macht Euch keine Sorgen. Es geht ihr gut. Und ich werde bei ihr bleiben, wenn Ihr das wünscht. Dann könnt Ihr Euch um – andere Dinge kümmern.“
Vorsichtig sah Lawrence seinen Herrn an, der ihm zunächst einen undurchdringlichen Blick zuwarf, dabei jedoch schwieg. Dann veränderte sich seine Miene und er sah nachdenklich aus. Schließlich nickte er.
„In Ordnung. Ich werde mich in der Nähe aufhalten, jedoch weit genug fort sein um kein Risiko einzugehen.“
Lawrence nickte und gleich darauf verschwand er zwischen den Bäumen. Lawrence blieb bei der Kutsche zurück. Er sah noch einmal nach den Pferden, dann setzte er sich wieder zu ihr in die Kutsche. Sie schlief weiterhin ganz ruhig. Lawrence machte jedoch etwas Anderes Sorgen und er wusste, dass seinen Herrn dieselbe Sorge quälte. Lawrence sah ihm deutlich an wie viel Kraft es ihn kostete, ihr so nah zu sein ohne seine Selbstbeherrschung zu verlieren. Es musste ihm Unmenschliches abverlangt haben, sie am vergangenen Abend unbeschadet bis zu dem vereinbarten Ort zu bringen, wo er, Lawrence, mit der Kutsche auf ihn gewartet hatte. Lawrence hoffte inständig dass er durchhalten würde bis sie zu Hause ankamen. Doch das würde noch einige Tage dauern. Und wie würde es dann weitergehen? Das war jedoch nicht Lawrence’ Entscheidung.
Die Weiterreise verlief ohne besondere Vorkommnisse. Sie kamen völlig unbehelligt voran und er war sich sicher, dass sie niemand verfolgte. Ihre Familie hatte ihr Verschwinden zwar mit Sicherheit inzwischen bemerkt und es war gut möglich, dass sie bereits die Polizei verständigt hatten, doch er hinterließ niemals irgendwelche Spuren und daher würde es selbst der Polizei schwerfallen, sie zu verfolgen. Er glaubte sogar, dass es unmöglich sein würde, ihre Spur zu verfolgen und diese sichere Überzeugung ließ ihn zufrieden in sich hineinlachen. Sie waren mittlerweile über eine Woche unterwegs und seine Stimmung hellte sich immer weiter auf als die Landschaft zusehends rauer und bergiger wurde – diese bizarre Schönheit hatte er unendlich vermisst in den vergangenen Monaten. Auch die Pferde schienen zu spüren, dass sie bald zu Hause sein würden, denn sie steigerten ihr Tempo von ganz alleine. Der Weg führte vorbei an abgeernteten Feldern und Wiesen, durch ausgedehnte Wälder, an hohen, kargen Bergen und weitläufigen Seen vorbei und durch tiefe, gewundene Täler hindurch. Obwohl der Winter bereits begonnen hatte war das Wetter schön und erstaunlich trocken, wodurch die Wege noch immer gut passierbar waren. Der erste Schnee schien hier noch fern zu sein und bisher waren nur die allerhöchsten Gipfel mit einer feinen, weißen Schicht überzogen, die von weitem kaum zu erkennen war. Er wusste jedoch wie schnell sich das Wetter in dieser abgelegenen Gegend ändern konnte und er wäre gerne zu Hause bevor der Schneefall einsetzte. Doch darüber machte er sich kaum Sorgen. Hier oben, in dieser einsamen Gegend konnte er bedenkenlos auch tagsüber reisen. Und in der Tat begegneten sie nur wenigen Menschen hier draußen. Die meisten davon waren Bauern, die die letzten Vorbereitungen für den herannahenden, kalten Winter trafen und froh über etwas Abwechslung waren. Er grüßte sie höflich, als er an ihren einsam gelegenen Gehöften vorüber fuhr, ließ sich aber auf kein Gespräch ein. Die meisten der Bauern erwiderten seinen Gruß flüchtig, sahen der Kutsche eine Weile hinterher und machten sich dann wieder an ihre Arbeit. Nur eines Abends, als es gerade zu dämmern begann und er in einem schmalen Tal eine flache Furt durchqueren musste, um anschließend auf der anderen Seite des Baches seinen Weg fortsetzen zu können, wurde er von Wegelagerern aufgehalten. Es handelte sich dabei um insgesamt vier Männer, die an dieser Stelle offenbar auf der Lauer gelegen hatten, ganz so als würden hier regelmäßig Fuhrwerke durchkommen. Sie versperrten ihm den Weg, sodass er mitten im Wasser anhalten musste. Wütend sah er dabei zu wie zwei der Wegelagerer die Zügel der beiden Kutschpferde ergriffen, während die beiden anderen Männer auf ihn zu traten. Dabei zogen sie ihre Waffen, lange Dolche, die auch schon bessere Tage gesehen und bereits zu rosten begonnen hatten. Beinahe hätte er laut losgelacht. Wollten sie ihn damit etwa an der Weiterfahrt hindern? Er verzog jedoch keine Miene. Auch nicht, als sich ihm der dritte Mann von der anderen Seite her näherte. Dieser hatte immerhin eine Schusswaffe, einen alten Revolver, bei sich, den er jetzt auf ihn richtete und ihn aufforderte, mit erhobenen Händen vom Kutschbock zu steigen. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er die Pferde einfach zur Weiterfahrt antreiben sollte. Die Männer könnten ihn nicht ernsthaft daran hindern, doch er wollte nicht, dass eines der Pferde verletzt oder die Kutsche beschädigt wurde.
Wegen seines Zögerns forderte der Mann mit dem Revolver ihn erneut auf, die Hände hochzunehmen und sofort abzusteigen. Dieses Mal mit mehr Nachdruck, doch er ignorierte ihn einfach, was den Kerl sichtbar erboste. Aber auch das ignorierte er. Was er jedoch nicht ignorierte war, als einer der beiden anderen Männer zur Tür der Kutsche ging und mit gezogenem Dolch davor stehen blieb. Und auf einmal ging alles sehr schnell. In einer einzigen Bewegung stürzte er sich auf die beiden Kerle mit den Dolchen, denen mit einem überraschten Aufschrei der Mann zur Hilfe eilte, der gerade noch die Pferde gehalten hatte. Es stellte keinerlei Problem dar, diese drei Kerle auszuschalten, doch er fuhr erschrocken herum als plötzlich auf der anderen Seite der Kutsche ein Schuss fiel. Blitzartig eilte er um die Kutsche herum, deren Türe auf der anderen Seite weit offen stand. Der vierte Mann mit dem Revolver stand in der geöffneten Türe und er keuchte erschrocken auf. Schon im nächsten Moment wollte er sich auf den Kerl stürzen doch da taumelte dieser bereits rückwärts, stolperte, wobei ihm der Revolver aus der Hand fiel, und stürzte in das kalte Wasser, wo er regungslos liegen blieb. Angstvoll eilte er zu der offenen Tür, doch im selben Augenblick schob Lawrence mit einem zufriedenen Grinsen den dunklen Vorhang beiseite. Das Gewehr hielt er dabei noch immer in seiner linken Hand. Lawrence fing seinen wilden Blick auf.
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