Er riss die Türe auf, deren Angeln bei der ruckartigen Bewegung quietschten, und stürmte in die Halle, wo er um ein Haar mit Lawrence zusammengeprallt wäre.
„Bitte verzeih, alter Freund“, entschuldigte er sich bei seinem Diener und eilte dann aus dem Haus, um sein Pferd zu holen. Lawrence sah ihm einen Moment lang nach, doch er ahnte bereits, dass etwas Schlimmes passiert war oder kurz bevorstand. Er hatte seinen Herrn in all den vielen Jahren, die sie schon zusammen verbracht hatten, selten, vielleicht sogar noch nie so außer sich gesehen.
Erst als er das Haus verließ bemerkte er, dass es schon dunkel war. Er hatte gar nicht gemerkt wie schnell der Tag vergangen war und in dem verdunkelten Haus war ihm nicht aufgefallen dass der Mond bereits aufgegangen war. Aber das war gut; die Dunkelheit bot ihm Sicherheit und einen natürlichen Schutz. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung schwang er sich auf den Rücken seines Pferdes und schon im nächsten Moment stürmte der schwarze Hengst los. Er musste sie finden!
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Noéra besuchte Amaté weiterhin regelmäßig. Wann immer sie Zeit fand verließ sie möglichst unbemerkt das Haus und machte sich auf den Weg zu Mr. Christie. So gelang es ihr wenigstens ab und zu, auf andere Gedanken zu kommen. Und nicht nur das. Einige Tage zuvor hatte sie zufällig ein Gespräch zwischen Mr. Christie und einem seiner Kunden mitbekommen in dem er diesem den Preis für den jungen Hengst genannt hatte. Zu Noéras Erleichterung hatte der Kunde jedoch gleich davon abgesehen, Amaté zu kaufen. Noéra dachte seitdem jedoch angestrengt darüber nach, ob es irgendeine Möglichkeit geben würde, dass sie selbst Mr. Christie den Hengst abkaufte. Leider hatte sie jedoch nur wenig Geld und sie hatte bisher keine Idee wie sie diesen Zustand ändern konnte. Der Gedanke ging ihr seitdem aber nicht mehr aus dem Kopf. Sie wünschte sich nichts mehr als Amaté zu bekommen und ihn nicht mehr heimlich besuchen zu müssen. Außerdem wäre eine Flucht mit einem Pferd viel einfacher. Einen kurzen Moment hatte sie sogar darüber nachgedacht, den Hengst einfach zu entführen, doch diesen Gedanken hatte sie sogleich wieder verworfen. Das kam natürlich nicht wirklich in Frage. Mr. Christie war immer freundlich zu ihr gewesen, da konnte sie ihn nicht auf solch niederträchtige Art und Weise betrügen. Wenn es doch nur irgendeine Möglichkeit für sie gäbe an Geld zu kommen. Sie hatte sogar schon darüber nachgedacht ob sie nicht die Mitgift verwenden konnte, die ihre Eltern für ihre Hochzeit vorgesehen hatten. Sie wusste natürlich nicht, ob sie ausreichen würde, um den Hengst davon zu kaufen, denn Mr. Christie hatte dem Mann einen sehr hohen Preis genannt, doch einen Versuch wäre es wert. Und wenn sie von zu Hause ausreißen würde gäbe es ohnehin keinen Grund mehr für eine Mitgift. Die Frage war nur, wie sie an das Geld kommen sollte.
Natürlich hatte sie auch darüber nachgedacht irgendwo zu arbeiten und sich das Geld zu verdienen. Sie könnte zum Beispiel in der Bibliothek arbeiten. Dort hatte sie bereits früher ausgeholfen und kannte sich sehr gut aus. Genauso wie in der kleinen Apotheke von Wilchester. Allerdings würde es auf diese Weise viel zu lange dauern bis sie das Geld zusammen hatte und außerdem würde es ihre Eltern mit Sicherheit misstrauisch machen. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren.
Nun, wenn sie noch eine Weile darüber nachdachte würde ihr vielleicht noch etwas Besseres einfallen. Und das tat sie. Sie dachte an fast nichts Anderes mehr, nur noch daran, wie sie das Geld für Amaté zusammen bekommen konnte und an ihre anschließende Flucht.
Diese Gedanken beschäftigten sie auch an diesem Spätnachmittag, als sie unterwegs zu Mr. Christie, oder vielmehr zu Amaté war. Sie war spät dran und die Sonne ging bereits unter als sie den Stall erreichte. Sie hatte ihrer Mutter am Nachmittag helfen müssen, den Garten mit Margarets Hilfe herbst- und winterfest zu machen. Daher war sie eigentlich viel zu spät losgegangen, denn mittlerweile wurde es bereits früh dunkel. Doch sie hatte an diesem Abend sowieso nichts vor und sie wollte den Hengst unbedingt sehen.
Wie immer genoss sie jede Minute mit dem jungen Hengst, genauso wie er sich über ihre Anwesenheit sichtlich freute. Daher blieb Noéra wider besseren Wissens viel zu lange und es war bereits stockfinster als sie sich von Amaté verabschiedete und den Stall verließ. Eilig machte sie sich auf den Heimweg. Sie wusste dass sie so spät eigentlich nicht mehr alleine unterwegs sein sollte. Die Straßen, durch die sie kam, waren jetzt am Abend menschenleer und nur spärlich beleuchtet. Während tagsüber oftmals reges Treiben herrschte, zumindest auf manchen Abschnitten ihres Weges, war es jetzt völlig still. Beinahe gespenstisch still. Doch Noéra schalt sich und sagte sich, dass es keinen Grund gab sich zu fürchten. Und eigentlich hatte sie auch gar keine Angst und ging entschlossen und festen Schrittes weiter. Alles war gut. Doch als sie auf einmal Schritte hinter sich vernahm begann ihr Herz wie wild zu pochen und sie beschleunigte ihre eigenen Schritte ein wenig. Sie wagte nicht, sich umzusehen, doch sie war sich sicher dass ihr zwei Personen folgten. Und die Schritte kamen näher. Noéra sagte sich dass es sich bestimmt um einen Zufall handelte. Die beiden waren bestimmt nur zu sehr später Stunde unterwegs oder spazieren. Sie würden sie gar nicht beachten. Sicher war ihre plötzliche Angst ganz unbegründet und unnötig. Doch die Schritte hinter ihr wurden schneller und kamen ihr immer näher. Nun gelang es Noéra nicht mehr, sich selbst zu beruhigen. Sie war sich auf einmal sicher dass sie verfolgt wurde und bekam nun wirklich Angst. Am liebsten wäre sie losgerannt, doch sie zwang sich dazu, ganz normal weiterzugehen. Sie vernahm die Stimmen der beiden Personen und erkannte, dass es sich um zwei Männer handelte. Das musste gar nichts heißen, sagte sie sich erneut, doch als einer der Männer nach ihr rief setzte ihr Herzschlag vor Schreck einen Moment lang aus, jedoch nur um gleich darauf umso heftiger weiterzuklopfen. Noéra ließ sich nichts anmerken und ging einfach weiter. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sollte sie nur tun? In Windeseile überdachte sie ihre Möglichkeiten. Bis nach Hause war es noch sehr weit und im Moment befand sie sich in einer Straße mit nur wenigen Häusern. Sie konnte also nicht einfach irgendwo klingeln und auf Hilfe hoffen.
Als sie gerade an einer eingezäunten Parkanlage entlang ging holten die beiden Männer sie ein und versperrten ihr den Weg. Noéra riss erschrocken die Augen auf, zwang sich dann aber zur Ruhe.
„Warum denn so schnell?“, fragte der eine und musterte sie neugierig. Die beiden Männer waren noch recht jung, wenig älter als sie selbst, und trugen lange, dunkle Mäntel.
„Ich habe es eilig“, entgegnete Noéra und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen und weitergehen lassen würden.“
Als Noéra jedoch Anstalten machte, tatsächlich weiterzugehen, ergriff der Mann, der sie angesprochen hatte, ihren Arm.
„Nicht so schnell. Wir wollen uns doch nur ein wenig unterhalten. So viel Zeit wirst du doch wohl haben, nicht wahr?“ Dabei sah er mit einem anzüglichen Grinsen von Noéra zu seinem Kumpanen und wieder zurück zu Noéra. Noéra lief ein eisiger Schauer über den Rücken, doch sie funkelte den Mann böse an und versuchte, ihm ihren Arm zu entwinden.
„Ich glaube kaum! Würden Sie mich jetzt bitte loslassen? Ich muss weiter.“
„Wirklich zu schade“, erwiderte der Mann, hielt sie aber weiterhin fest. „Aber ich denke nicht dass wir so schnell schon wieder auf deine Gesellschaft verzichten wollen.“ Der andere Mann lachte laut auf und grinste Noéra dann breit an. Noéras Herz pochte wie wild. Was sollte sie nur tun? Selbst wenn sie schreien würde, würde sie hier niemand hören können.
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