Sarah freute sich ebenfalls über das Vertrauen, dass Noéra ihr entgegengebracht hatte, als sie ihr von dem Vorfall erzählt hatte. Sie war die Einzige mit der Noéra darüber gesprochen hatte. Wenn sie ihr doch nur irgendwie helfen könnte.
Die nächsten Tage und Wochen vergingen, doch Noéra sah ihn nicht wieder. Allmählich fand sie sich mit dem Gedanken ab, dass sie ihm wohl nicht wieder begegnen würde und es besser war wenn sie ihn vergaß. Doch das konnte sie nicht. Die Erinnerung an die Angst, die sie an jenem Abend verspürt hatte, verblasste mit der Zeit und sie träumte auch nicht mehr so häufig davon. Aber so sehr sie auch versuchte, ihr Leben weiterzuleben und ihn zu vergessen, wollte es ihr doch nicht so recht gelingen. Immer wieder dachte sie an ihn und sah seine Augen vor sich, die undurchdringlich auf sie gerichtet gewesen waren. Wie war es nur möglich dass sie jemanden, den sie eigentlich überhaupt nicht kannte, einfach nicht vergessen konnte? Dass er sie sogar bis in ihre Träume verfolgte? Immer wieder wachte sie nachts auf und lag wach in ihrem Bett. Oft stand sie dann nach einer Weile auf und trat an ihr Fenster um hinaus in den Mondschein zu sehen. Auf völlig unerfindliche Weise beruhigte sie das jedes Mal, sodass sie nach einiger Zeit wieder zu Bett gehen konnte und ganz ruhig wieder einschlief.
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Seit dem Vorfall an jenem Abend war er von einer Unruhe erfasst, die ihn nicht mehr losließ. Er musste immerzu an sie denken und an die Sorge die er empfunden hatte, als er sie dort so völlig hilf- und schutzlos gesehen hatte. Was war nur los mit ihm? Warum war sein Bedürfnis, sie wiederzusehen, so stark? Was sollte er nur tun?
Stundenlang grübelte er darüber nach, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Er wusste jedoch dass er nicht so empfinden dürfte wie er es tat, und das bereitete ihm Sorgen. Denn zum ersten Mal in seinem Leben wusste er tatsächlich nicht mehr weiter und er war sich ganz und gar nicht sicher ob er dazu im Stande sein würde, das zu tun was er tun musste. Was seine Bestimmung war. Und ihre.
Diese Unsicherheit brachte ihn noch um den Verstand und er musste unbedingt etwas unternehmen. Lange hatte er sich dagegen gesträubt, hatte sich geweigert seinem Verlangen nachzugeben, doch eines Abends hielt er es nicht mehr aus und machte sich auf den Weg zu ihr. Er hatte bereits vor langer Zeit, lange vor dem Geschehnis an jenem Abend, herausgefunden, wo sie wohnte. Doch er war nie dort gewesen, war ihr nie gefolgt. Aber an diesem Abend konnte er nicht anders.
Während er sich dort im Dunkeln verbarg schalt er sich bereits selbst für seine dumme Idee, hierher zu kommen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Was hatte er erwartet? Doch als er sich gerade wieder zurückziehen wollte und zu seinem Haus zurück reiten wollte ließ ihn ein plötzliches, unbestimmbares Gefühl inne halten und noch einmal zu ihrem Fenster hinaufsehen. Ihm stockte für einen Moment der Atem als sie an das Fenster trat und in den Sternenhimmel hinaufsah. Vorsichtig trat er noch ein Stück weiter in den Schatten zurück, konnte jedoch den Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen, das im Mondschein silbern schimmerte. Sie war wunderschön. Einen kurzen Augenblick lang meinte er so etwas wie Sehnsucht in ihrem Blick zu erkennen. Sehnsucht, aber wonach? Doch vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Gleich darauf zwang er sich, den Blick von ihr abzuwenden und verschwand in der Dunkelheit. Er hatte auf einmal das Gefühl, kein Recht zu haben, hier zu sein und sie zu beobachten. Doch gleichzeitig wusste er, dass er zurückkommen würde. Und so war es bereits wenige Nächte später. Und wieder sah er sie dort am Fenster stehen. Er war verloren.
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Während der Woche, die Noéra bei den Gillivans in deren Landhaus verbrachte gelang es ihr endlich, aus ihrer Lethargie zu erwachen. Sie genoss die Zeit dort sehr und obwohl es mittlerweile Herbst war und dementsprechend kühl verbrachte sie die meiste Zeit draußen und bei den Pferden. Hier hatte sie kaum noch Zeit zum Nachdenken und das tat ihr gut. Nur Amaté vermisste sie sehr und daher war sie doch froh als sie wieder zu Hause war und den Hengst besuchen konnte.
Sie hatte jedoch auch Zeit gehabt, sich ausführlich mit Martha Gillivan zu unterhalten und Martha hatte ihr wertvolle Anregungen gegeben die ihr geholfen hatten, manche Sachen aus einem ganz neuen Blickwinkel zu betrachten. Zwar hatte Noéra ihr nichts von jenem Abend erzählt, aber dennoch gelang es ihr gegen Ende der Woche, einen Entschluss zu fassen. Einen Entschluss, der ihr Leben auf jeden Fall verändern würde, wenn sie auch noch nicht wusste ob es sich dadurch zum Guten wenden würde. Sie würde Henry heiraten. Ihre Gefühle für ihn hatten sich zwar nicht wirklich geändert, das konnte Noéra nicht leugnen, doch sie sah Henry nun mit anderen Augen und musste sich eingestehen dass er durchaus ein passabler Ehemann sein würde. Er gab sich wirklich die größte Mühe und hatte sein Verhalten ihr gegenüber geändert, sodass Noéra ihm nun zumindest eine gewisse Sympathie entgegenbrachte und allmählich lernte, ihn zu schätzen. Er würde ihr ein guter Ehemann sein. Und wer weiß, vielleicht gab es die große, einzig wahre Liebe, an die sie bislang so fest geglaubt hatte, ja doch nicht und das, was sie Henry gegenüber empfand war das Bestmögliche. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Gefallen fand sie an diesem Gedanken. Jedenfalls redete sie sich das ein.
Als Noéra wieder zu Hause war sprach sie zunächst mit Sarah über ihren Entschluss, bevor sie schließlich ihre Eltern aufsuchte. Sarah konnte ihre Entscheidung, Henry nun doch zu heiraten obwohl sie ihn nicht liebte, anfangs nicht verstehen. Und sie wollte nicht dabei zusehen müssen, wie ihre Freundin in ihr Unglück rannte. Denn Sarah glaubte nicht, dass Noéra mit Henry glücklich werden würde.
„Vielleicht hast du Recht“, entgegnete Noéra gleichmütig, als Sarah sie darauf ansprach.
„Aber ich darf nicht weiter einem Phantom hinterherlaufen. Ich muss meine Zukunft, mein Leben endlich selbst in die Hand nehmen. Es ist zwar nun alles anders gekommen, als ich noch vor ein paar Wochen gedacht hatte, aber daran kann ich nichts ändern und vielleicht ist es ja besser so. Vielleicht werde ich Henry eines Tages ja sogar lieben können. Auf jeden Fall ist mir klar geworden dass ich nicht ewig auf einen Mann warten kann, den es vielleicht gar nicht gibt. Auf eine Liebe, die es möglicherweise nur in Märchen und Geschichten gibt.“
Sarah konnte es Noéra ansehen und in ihrer Stimme hören, dass sie von all dem nicht eben überzeugt war, sondern es sich nur einredete, doch sie erwiderte nichts und nickte nur. Sie wusste dass Noéra tief in ihrem Inneren traurig und verzweifelt war und einfach keinen Ausweg mehr sah. Sie hatte sich mit ihrem offensichtlichen Schicksal abgefunden und schließlich resigniert. Sie hatte keine Lust und keine Kraft mehr, weiter zu kämpfen. Sarah bedauerte, dass sie Noéra nicht helfen konnte und ihr schließlich nichts anderes übrig blieb als Noéra tröstend in den Arm zu nehmen, als ihr eine Träne über die Wange lief.
Am nächsten Tag sprach Noéra mit ihren Eltern und sandte Henry eine Nachricht, in der sie seinen Heiratsantrag offiziell annahm. Sie wusste dass diese Entscheidung ihr Leben verändern würde. Sie hatte so etwas Endgültiges, Unwiderrufliches, wie Noéra fand. Endgültig auch, weil sie damit all ihre kindlichen Träume von einem glücklichen Leben und einer perfekten Welt begrub. Doch sie bot ihr auch die Möglichkeit, ein ganz neues Leben zu beginnen. Sie würde endlich von den Restriktionen ihrer Eltern, insbesondere ihrer Mutter befreit sein. Sie hatte schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass hier, im Haus ihrer Eltern, einfach kein Platz mehr für sie war. Noéra redete sich ein dass ihr Leben mit Henry bestimmt besser sein würde als sie erwartete.
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