„Ich will nichts hören. Du hast Hausarrest und darüber diskutiere ich nicht. Dann hast du ausreichend Zeit über alles nachzudenken.
Noéra wollte noch etwas entgegnen, schluckte ihre Antwort dann jedoch hinunter. Es machte keinen Sinn, weiter mit ihrer Mutter zu streiten. Schweigend wandte sie den Blick ab und aß eine Kleinigkeit. Der Hunger war ihr gründlich vergangen. Das gesamte Abendessen verlief schweigend und Noéra verließ den Tisch so bald wie möglich um in ihr Zimmer hinauf zu gehen. Sie verließ ihr Zimmer den ganzen Abend nicht mehr und ging früh zu Bett. Doch an Schlafen war nicht zu denken.
Die nächsten Wochen schleppten sich dahin, ohne dass sich das Verhältnis zwischen Noéra und ihren Eltern besserte. Jane Hayden hielt den Hausarrest ihrer Tochter eine ganze Zeit lang aufrecht und gestattete Noéra nicht einmal, Besuch zu empfangen oder die Bibliothek aufzusuchen. Noéra beklagte sich jedoch nicht. Das hätte ihre Lage nur noch verschlimmert. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war ohnehin mehr als eisig, nachdem sie noch ein weiteres Mal über Henry gesprochen hatten. Ihre Mutter hatte ihr noch einmal deutlich gesagt, was sie von ihr erwartete, doch Noéra hielt an ihrem Entschluss, Henry unter gar keinen Umständen zu heiraten, fest. Daran konnte auch die Drohung ihrer Mutter, ihr das Leben zur Hölle zu machen, nichts ändern. Viel schlimmer konnte es ja kaum noch werden, sagte sich Noéra.
Die Tage schlichen dahin und Noéra wurde von einer nie gekannten Lethargie erfasst. Eines Abends hielt sie es einfach nicht mehr aus, eingesperrt zu sein, und schlich sich nach dem Abendessen aus dem Haus. Sie wartete bis sich ihr Vater in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte und ihre Mutter von ihrer Freundin abgeholt worden war um in die Oper zu gehen. Dann holte sie ihren Mantel und verließ das Haus durch die Hintertüre. Abends wurde es bereits empfindlich kalt. Ein Zeichen dafür dass der Herbst Einzug hielt. Sie sah sich noch ein paar Mal verstohlen um, um sicher zu gehen, dass niemand sie gesehen hatte, dann machte sie sich auf den Weg zu Amaté. Es war schon fast zwei Wochen her, dass sie ihn zuletzt besucht hatte. Und das war für Noéra beinahe das Schlimmste an ihrem Hausarrest. Ihren Freundinnen konnte sie zumindest von Zeit zu Zeit schreiben. Die treue Sarah hatte sich bereiterklärt, die Briefe zu überbringen. Und auch Sarahs Gesellschaft war Noéra ein großer Trost. Doch den jungen Hengst hatte sie wirklich vermisst und auch Amaté freute sich sichtlich, sie zu sehen. Noéra fühlte sich gleich viel besser als sie das weiche Fell des Pferdes unter ihren Fingern spürte. Sie blieb an diesem Abend zwar nicht sehr lange bei Amaté, aus Angst, ihr unerlaubtes Verschwinden könne entdeckt werden, doch bei ihrem Abschied versprach sie dem Hengst, bald wiederzukommen. Und sie hielt ihr Versprechen und schlich sich abends bald regelmäßig aus dem Haus, selbst als ihr Hausarrest irgendwann aufgehoben wurde. Niemand sollte wissen wohin sie ging.
Das Verhältnis zu ihren Eltern besserte sich jedoch nicht und Noéra lehnte es auch weiterhin vehement ab, mit Henry zu sprechen, obwohl er mehrfach zum Haus der Haydens kam um sie zu sehen. Aber auch Jane Hayden hielt ihr Versprechen, ihrer Tochter das Leben so unangenehm wie möglich zu machen um sie „zur Vernunft“ zu bringen, wie sie immer wieder betonte. Noéra hatte nicht gewusst, wie grausam ihre Mutter sein konnte und das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war äußerst unterkühlt. Noéra hatte zunehmend das Gefühl, es zu Hause nicht mehr auszuhalten und mit der Zeit reifte ein Plan in ihr. Sie wollte von zu Hause fort. Zunächst war es nur eine vage Idee, doch je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr diese Idee. Sie malte sich aus wie sie durch das Land streifte, sich an verborgenen Orten versteckte und für sich selbst sorgte. Natürlich waren das anfangs nur wilde Fantasien, das wusste Noéra, doch als sie irgendwann begann, ernsthaft darüber nachzudenken, von zu Hause fortzugehen, nahm ihr Plan allmählich Gestalt an. Zunächst hatte Noéra zwar keine Ahnung, wohin sie eigentlich gehen sollte und wovon sie leben sollte, doch dafür würde sie schon eine Lösung finden, da war sie sich sicher. Und Sarah war ihr eine hilfreiche Unterstützung und geduldige Zuhörerin. Noéra hatte sich ihrer Freundin eines Nachmittags anvertraut und obwohl Sarah zunächst sehr bestürzt gewesen war konnte sie Noéra doch verstehen. Sie sah ja täglich, wie unglücklich ihre Freundin war und sie wollte ihr gerne helfen. Und wer weiß, vielleicht würde sie ihre Freundin sogar begleiten. Je länger Noéra darüber nachdachte desto besser gefiel ihr der Gedanke. Es würde zwar sicher nicht einfach werden, doch irgendwie würde sie es schaffen, ein neues Leben zu beginnen. Vielleicht sogar zusammen mit Sarah. Im Moment wäre Noéra fast alles recht gewesen, wenn sie nur ihrem momentanen Leben entkommen konnte. Und ihr Plan, von zu Hause zu fliehen, gab ihr neue Hoffnung, wenn er auch noch nicht ganz ausgereift war.
Sie konnte noch nicht ahnen, dass ihr Plan bereits wenige Tage später zunichte gemacht werden würde.
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Er war schon den ganzen Tag über von einer völlig unnatürlichen Unruhe erfasst. Er konnte sich auf nichts konzentrieren und keinen klaren Gedanken fassen. Das kannte er gar nicht von sich. Normalerweise war er um Ausgeglichenheit und innere Ruhe bemüht und er hatte sich zu jeder Zeit vollständig unter Kontrolle. Das war auch unerlässlich, denn jede, wenn auch noch so geringe Unachtsamkeit und Unvorsichtigkeit seinerseits konnte schreckliche Folgen haben, dessen war er sich bewusst. Genauso wie bereits der geringste Fehltritt ihn verraten könnte. Und das durfte unter keinen Umständen geschehen. Doch an diesem Tag war alles anders und er war sich seiner Selbstbeherrschung nicht mehr sicher. Das Beste würde sein wenn er das kleine Arbeitszimmer, an dessen Schreibpult er gerade stand, gar nicht verließ. Als er jedoch weiter darüber nachdachte was heute wohl nicht stimmte musste er sich irgendwann eingestehen, dass er schon seit einiger Zeit ein seltsames Gefühl hatte, wenn auch noch nie so sehr wie an diesem Tag. Genau genommen schon seit dem Tag als er vor einigen Wochen vorübergehend das kleine Mietshaus am Stadtrand von Wilchester zusammen mit seinem Diener bezogen hatte. Er fühlte sich nirgendwo so wohl wie zu Hause, das war nichts Neues für ihn, und deshalb war er jedes Mal froh wenn er alle Geschäfte getätigt hatte und wieder nach Hause zurückkehren konnte. Doch dieses Mal war es anders und das beunruhigte ihn. Aber es half alles nichts, er würde noch einige Zeit ausharren müssen. Was er hier in Wilchester zu erledigen hatte bedurfte noch einiger Zeit und er wusste noch nicht, wie er es überhaupt angehen sollte. Er hatte geglaubt, dass es einfach werden würde. Davon war er auch noch überzeugt gewesen als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Doch bereits das nächste Mal, als er sie gesehen hatte und ihr ein Stück gefolgt war um sie zu beobachten hatte sich etwas geändert. Sie war an diesem Tag sehr aufgebracht, zugleich aber tieftraurig gewesen, das hatte er deutlich spüren können. Aber da war noch etwas Anderes gewesen, das ihn völlig durcheinander gebracht hatte. Sie hatte eine Seite an ihm berührt, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Sie hatte etwas in ihm geweckt von dem er gar nicht gewusst hatte, dass es existierte. Das eigentlich auch nicht existieren durfte. Doch nun hatte sich alles geändert, alles war komplizierter, schwieriger geworden dadurch und er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Das war der Grund weshalb er schon seit einiger Zeit unruhig war, aber es erklärte nicht seine fast unerträgliche Unruhe und Anspannung, die ihn heute nicht losließ. Was war nur los?
Er wollte gerade nach seinem Diener rufen und trat daher an die Tür des schon den ganzen Tag verdunkelten Zimmers als es ihn plötzlich wie ein Blitz traf. Auf einmal wich alle Unruhe von ihm und wurde von einer schrecklichen Erkenntnis verdrängt. Er musste zu ihr, er musste sie so schnell wie möglich finden, bevor es zu spät war. Sie schwebte in Gefahr und er musste ihr helfen. Würde er sie noch rechtzeitig erreichen können?
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