Den kommenden Tag verbrachten wir im Schutze des dichten Niederwaldes, immer auf der Hut, vom Russen nicht entdeckt zu werden. Als es zu dämmern begann, schlichen wir einzeln vom Waldrand Richtung Bug. Vom flachen Ufer aus konnten wir ziemlich gut ins Wasser gehen. Am gegenüberliegenden Ufer war eine Steilküste von vier bis fünf Metern Höhe. Ich trug keine Stiefel, sondern Gamaschen über den Schnürschuhen. Ich hatte mir eine Stelle mit einem Busch ausgesucht, um mich daran hochzuziehen. Alle anderen zogen ihre Uniform aus, ich nicht, weil ich dachte, wenn nun doch unerwartet der Russe kommt, dann bist du angezogen. Ich ging ins Wasser, aber ich ging nicht unter. Ich kam mir vor wie Jesus auf dem See Genezareth. Doch nach drei bis vier Metern sackte ich ab. Das Wasser lief mir am Hals in die Feldbluse hinein, ein schreckliches Gefühl. Nun musste ich schwimmen! Die nasse Uniform hemmte mich. Was musste ich sehen? Vor mir schwamm ein Funker namens Fiedler, an meinem Busch Halt suchend. Oh weh! Jetzt musste ich versuchen, einige Meter weiter Fuß zu fassen, was sehr schwierig war, da man in dem Lehm keinen Halt finden konnte. Nach vielen Ängsten war ich endlich am hohen Ufer angekommen. Einer der älteren Kameraden – Alfred Höfer aus Koblenz, von Beruf Schuhmachermeister, was ihm später von Nutzen sein sollte – der es auch vorgezogen hatte sich auszuziehen, um den Bug zu durchschwimmen, verlor im Wasser einen Schuh. Er tobte, wir hätten seinen Schuh. Er lief zwei Wochen bis zur Gefangennahme mit einem Schuh an dem einen und mit zwei Socken an dem anderen Fuß, der arme Kerl. Mein Handeln war also richtig gewesen.
Am Westufer des Bugs angekommen, hatten wir doch gehofft, jetzt gerettet zu sein, denn hier sollte sich angeblich eine Auffangstellung der 20. Panzerdivision mit Schützengräben und so weiter befinden. Inzwischen war es 22 Uhr und stockdunkel. Wir bemerkten bald Schützenlöcher, die anstatt mit Soldaten mit Wasser gefüllt waren. Keine Spur von deutschen Soldaten! Wir schlichen stumm in Richtung Westen und fanden in einem umzäunten großen Garten ein schönes gepflegtes Holzhaus. Wir nächtigten in dem Haus in der Überzeugung, uns im Vorfeld unserer Front zu befinden. Am nächsten Morgen standen wir beizeiten auf, denn die Sonne schien in unsere Unterkunft, als wäre alles in Butter, wie im tiefsten Frieden. Arglos gingen wir aus dem Haus auf den Weg. Oh Schreck! Was mussten wir sehen? Etwa 300 bis 400 Meter vor uns standen kilometerlange Fahrzeugkolonnen der Roten Armee. Was wir zu der Zeit noch nicht wussten: Die klugen Russen marschierten etwa ab 17 Uhr, wenn die größte Hitze vorbei war, bis zum nächsten Morgen. Es war jetzt etwa 7 Uhr morgens. Die Russen hatten ihren Nachtmarsch beendet und machten nun Rast im Schatten von Bäumen, die den Weg säumten, und schliefen, sodass uns kein Wachposten erspäht hatte. War das Zufall oder Fügung? Wir suchten zunächst Deckung im Schutze von Niederwald und warteten ab, aber es geschah nichts von Seiten der Russen.
18. Juli 1944 – Wir bewegten uns möglichst unauffällig ohne zu sprechen in Marschrichtung West-West-Süd. Die Marschrichtungszahl 7 17 oder 18 habe ich nicht mehr im Kopf. Jedenfalls besaß einer der Kameraden einen Marschkompass; ich selbst hatte auch einen kleinen einfachen Kompass, weshalb man mich erst belächelt hatte, nun aber froh war über den Besitz desselben, als wir unsere Fluchtgruppe teilten. Durch Niederwald ging das Suchen nach deutschen Verteidigungslinien weiter bis gegen Mittag. Wir hatten nun schon tagelang nichts zu Essen gehabt, aber noch viel schlimmer war der Durst, den wir jetzt so richtig zu spüren bekamen. Auf einmal sahen wir eine verdreckte graugrüne Menschenmasse auf uns zukommen. Sollten es wieder Russen sein? Wir näherten uns vorsichtig auf vielleicht 200 Meter. Dann erkannten wir sie als die Unsrigen. Ein zerlumpter Haufen, das ganze Regiment 695 bestehend aus nur insgesamt 96 Mann, davon allein 30 vom Nachrichtenzug. Nun erfuhren wir auch, was sich am Abend vorher zugetragen hatte. Der Rest des Regiments war der Übermacht der Russen bis zum Bug gewichen, wo Generalmajor Beutler um 24 Uhr in der aussichtslosen Lage ausrief: „Rette sich, wer kann!“ und sich kopfüber in den Bug stürzte, gefolgt von den Landsern 8 und den Russen, die ein fürchterliches Gemetzel abhielten, denn sie kannten kein Pardon. Den General haben wir nicht mehr zu sehen bekommen.
Einer der Offiziere wusste wohl von dem neu geplanten Divisionsgefechtsstand, in dessen Bereich wir uns nun laut Karte befänden. Ein paar Landser, die ein Gartenland mit Möhren entdeckt und sich welche genommen hatten, wollte dieser Offizier wegen Plünderns bestrafen. Aber daraus wurde nichts mehr.
Wir hatten nur den einen Wunsch, wieder bei unserer Einheit zu sein, die angeblich etwa sechs Kilometer westlich von uns sein müsste. Wir gingen also wieder nach dem Kompass, der Nachrichtenzug zuerst, ich selbst voraus. Es ging aber durch einen versumpften Birkenwald. Erst war der Sumpf noch flach, aber nach circa 200 Metern musste ich wie ein Pferd gehen, weil die Wurzeln im Moor die Füße festhielten. Auf einmal hieß es im Flüsterton: „Zurück! Wir sind verkehrt.“ Jetzt war ich der Letzte! Oh weh! Das war schlimmer als vorher. Denn während ich vorher praktisch auf dem Moor ging, sank ich nun in den Fußstapfen meiner Kameraden mit jedem Schritt tiefer ein. Ich stand Todesängste aus und befand mich schließlich noch allein im Moor. Heute denke ich, es war wie es im Gedicht heißt: „Ich locke den Schläfer, ich zieh ihn hinein…“ Endlich war auch ich wieder auf festem Boden.
Wir schlugen eine neue Richtung ein, weiter südlich. Der Sumpf war auf der Karte gar nicht eingezeichnet. Während die anderen ihre Stiefel auszogen, um das Moorwasser auszuschütten, konnte ich mit meinen Schnürschuhen schon wieder losziehen. Die neue Richtung führte uns auf eine Waldlichtung. Rechts des Weges standen zwei wunderschöne Bauernhäuser mit Vorgärten nebeneinander. Ganz idyllisch standen sie da wie im Frieden. Kein Lärm, nichts war zu hören. Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel. Ich dachte: „Gerettet! Gott sei Dank!“ Aber oh Schreck! Beim zweiten Haus saß ein sowjetischer Offizier und rasierte sich und ein zweiter kam gerade aus dem Haus. Ich nichts wie kehrt und zurück in den Wald! Der Russe ist da! Aber scheinbar hatte er uns auf dem grasbewachsenen Weg nicht bemerkt. Es geschah nichts. War es wieder die Fügung einer höheren Macht?
Wir zogen also weiter durch den Wald bis zum Dunkelwerden. Dann erreichten wir ein versteckt liegendes Haus. Da sie vor dem Gebäude ein paar Soldaten gesehen hatten, gingen die Angehörigen der Regimentskompanie hinein. Als sie wieder herauskamen, hatten sie ein Kommissbrot 9 für 96 Mann. Mehr hätten die Leute der Division auch nicht gehabt. Mir war die Sache irgendwie mysteriös.
Neue Anweisung: Ruhig verhalten, nicht rauchen, nicht sprechen, nicht flüstern, die Marschrichtung beibehalten! Diese führte durch einen Tannenwald. Da es stockfinster war, sollten wir uns alle am Koppel 10 des Vordermannes festhalten. Wir Nachrichtenleute gingen voraus. Ich war vielleicht der Zwanzigste. Die hinter mir gingen zogen immer mehr, da wir ja nicht im Gleichschritt marschierten, sondern uns vorsichtig durch das Gestrüpp, das am Boden lag, mit den Füßen vorwärts tasten mussten. Es war gewiss schon Mitternacht, als ich feststellte, dass keine Hand mehr an meinem Koppel war, denn das Ziehen war immer weniger geworden. Hatten wir die anderen hinter uns verloren oder waren sie heimlich umgebracht worden? Ich hatte jedenfalls Angst, den Anschluss an den Vordermann zu verlieren. Dann hieß es im Flüsterton von einem zum andern: „Hinlegen! Wir sehen nichts mehr und müssen den Morgen abwarten.“
19. Juli – Morgens früh, sechs oder sieben Uhr wurden wir wach und stellten fest, dass wir uns an einem Waldrand befanden. Wir peilten die Lage an und gewahrten vor uns eine große Lichtung von etwa 300 Metern Durchmesser, mittendrin eine Insel aus Laubbäumen, am äußeren Rande des Waldes hinter der Insel Geschütze der Roten Armee! Unser Gedanke: „Dann sind wir circa 500 Meter hinter der russischen Front.“ Die Geschütze standen auseinander, also noch kein fester Frontverlauf. So versuchten wir erst einmal, immer einzeln, die Waldlichtung zu erreichen, wir, die Jüngsten und Schnellsten, zuerst, um dann eventuell den anderen Feuerschutz zu gewähren. Wir hatten das Wäldchen fast erreicht, als wir plötzlich zurückgerufen wurden, denn irgendwelche Russen waren doch auf uns aufmerksam geworden. Zurück im Walde angekommen und dort Schutz suchend, lief ich einem noch schlaftrunkenen Russen fast in die Arme. Der führte sein Pferd am Zaum auf einem sogenannten Trampelpfad, deren es kreuz und quer alle sechs bis acht Meter eine ganze Menge im Walde gab. Ein Glück für mich, dass der Mann vor sich auf die Erde schaute ohne mich wahrzunehmen. Zufall oder Fügung? Das war noch nichts! Aber jetzt hetzten etliche Iwans auf Pferden über all die kleinen Pfade, welche wir in der Nacht nicht wahrgenommen hatten. Es war eine Treibjagd sondergleichen. Handgranaten wurden vom Gegner geworfen, es wurde mit Maschinenpistolen gezielt oder blindlings geschossen. Das währte den ganzen Vormittag bis man keine Todesschreie bzw. das Röcheln der Schwerverwundeten mehr hörte. Ich glaube, mich noch nie so tief in Gras und Moos gedrückt zu haben! Vor mir ein russischer Reiter mit gezückter Maschinenpistole, er war so nah, er hätte mich sehen müssen. Ob er mich für tot hielt? Ich weiß es nicht.
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