Das Schauspiel, das sich nun am 15. Juli 1944 unseren Augen bot, sah aus wie ein Aufmarsch aus dem Bilderbuch oder am Tag der deutschen Wehrmacht! Der Iwan kam etwa 300 bis 400 Meter von uns entfernt von der anderen Hangseite in aller Ruhe in Hundertschaften rechts vor uns aus dem Wald und teilte sich jeweils in Gruppen von 20 Soldaten in Schützengräben bzw. Laufgräben. Bei dem ersten Erscheinen der Russen hieß es: „Nicht schießen, wir müssen sparen, lassen sie herankommen und schießen dann.“ Der Aufmarsch nahm kein Ende. Man konnte glauben es wäre ein Wespennest, in das man hinein sticht. Unser Hauptmann Windten, Kommandeur vom zweiten Bataillon, 18 Jahre Soldat, hatte kurz vorher seinen Urlaub von drei Wochen genommen, kam aber nach einer Woche wieder und meldete sich beim Regimentskommandeur zurück. Der war sehr erstaunt, dass Windten schon wieder da war. Dessen Antwort: „Meine beste Erholung ist bei meinen Grenadieren im Graben!“ Mir wäre das nicht passiert! Was aus ihm geworden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir mussten ihn schwer verwundet zurücklassen.
15. Juli – Wir mussten der Übermacht weichen und zogen uns unter schweren Verlusten in die Stadt zurück, das heißt der Russe trieb uns durch die Gassen von allen Seiten. Er hatte uns inzwischen auch von Südosten umzingelt. Der einzige Fluchtweg ging Richtung Südwest. Am Ortsausgang lag der Bunker des Feldmarschalls Model, tief unter der Erde, in Blockbauweise gebaut, alles fein und sauber. Es gab dort Wohnraum, Arbeitszimmer, Küche, Schlafraum sowie Unterkünfte für das Wachkommando, die Adjutanten und so weiter. Der Bunker war unbewohnt, uns zum Nutzen. Es regnete und wir hatten ein Dach über dem Kopf. Wie sollte es weitergehen? Den ganzen Tag über retteten sich Soldaten in den Bunker. Sie berichteten von sowjetischen Panzerschützen, die mit grinsenden Gesichtern Jagd machten auf einzelne Deutsche und sie dann kaltblütig zerquetschten!! So auch meinen guten Kameraden Willi Becker aus Köln, verheiratet, ein Kind, ein Junge. Dem etwa Dreijährigen hatte er von den Ponys erzählt, die unsere Wagen zogen. Der kleine Junge hätte auch gern so ein Pferdchen gehabt, was ihm sein Papa für den nächsten Urlaub versprochen hatte. Damals gab es das Lied „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen…“.
Spät am Nachmittag versuchten wir, uns einzeln zum 300 bis 400 Meter entfernten Wald zu retten. Es war wie beim russischen Roulette, im Laufschritt hinlegen, sich tot stellen, robben, Sprung in die nächste Deckungsmöglichkeit. Ich hatte es geschafft. Wenn es ums Überleben geht, kann man viel. Ich glaube im Nachhinein, dass nur jeder Dritte den rettenden Wald erreichte. Es kann aber auch sein, dass die Russen ihr Tagesziel erreicht hatten, denn wir beobachteten, dass sie sich am Rande der Stadt einschanzten. Im Wald waren Fahrzeugspuren zu sehen und wir glaubten, es wären die der Unsrigen. Deshalb fühlten wir uns sicher, gerieten aber in eine Sackgasse. Da es mittlerweile stockfinster war, sanken wir total erschöpft, ausgehungert und am Verdursten, in einen tiefen Schlaf!
Als am 16. Juli der Nachrichtenzug und die Truppenreste bei der Division eintrafen, wurde uns mitgeteilt, dass wir seit dem Vorabend 22 Uhr eingeschlossen wären, und zwar durch Panzer bei Busk 3 , einer Stadt am Bug, wo der Russe die einzige Brücke besetzt hatte. Wir saßen in der Falle! Der Überfall bei Radcichow war also nur ein Scheinangriff gewesen, um uns abzulenken, während der Russe bequem südlich, von uns unbemerkt, den Bug 4 bei Busk erreichte. Zum andern war die ganze Gegend ein unermesslich großes Sumpfgebiet mit riesigen Kiefernwäldern. Wir flüchteten mit dem Rest der Division über Feldeisenbahndämme, da die sumpfigen Wälder im Sommer nicht begehbar waren, sondern nur im Winter wie auch in Sibirien. Das Fahren auf den Schwellen war für Pferd und Wagen sehr strapaziös; es gab Achsenbrüche an den erbeuteten Bauernwagen. Die Pferde wurden einfach ausgespannt, der Wagen mitsamt dem ganzen Ladegut den Bahndamm herunter gekippt. Ich konnte nicht begreifen, dass sich unsere Lage innerhalb einiger Stunden so dramatisch verändert haben sollte. Aber es war die absolute Tatsache!
Es war ein wunderschöner Julitag, eine himmlische Ruhe, kein Gewehrfeuer oder Granateinschlag; ein seltsames Gefühl für uns alle, für mich besonders, da ich eine solche Lage das erste Mal erlebte, während alle anderen Soldaten unserer Division schon im Winter 1943 eine Einkesselung erlebt hatten. Nur dieses Mal hatte uns der Iwan ganz schön reingelegt. Er hatte ja das Umzingeln von der deutschen Wehrmacht gelernt! Ein Fieseler Storch 5 flog über uns; ich wollte ein sogenanntes Fliegertuch, eine besondere Hakenkreuzfahne, auslegen. Es wurde mir von Seiten unseres Divisionsführers, Generalmajor Beutler, untersagt mit der Bemerkung, es könnte ja ein erbeutetes Flugzeug sein, das der Feind nun zu Aufklärungszwecken benutze. Nach mehr als 70 Jahren ist es schwierig, die Tatsache klarzustellen.
Unsere Stimmung war unter dem Nullpunkt angelangt. Wir konnten es nicht fassen, wie so etwas geschehen konnte. Wir alle schlichen dahin wie zu unserer eigenen Beerdigung. Das Merkwürdigste war: Keine Feindberührung, kein Schuss, nur Totenstille. Wir ahnten, was uns erwartete. Aber keiner wagte es auszusprechen beziehungsweise zu flüstern, denn Sprechen war verboten!
Also zogen wir Meter für Meter durch den Waldrand bis zum Nachmittag, als wir mitten auf einer großen Lichtung in ein kleines Dorf kamen. Merkwürdigerweise war die Bevölkerung sehr reserviert. Wir erhielten den Befehl, alles, was Geräusche verursachen könnte, wie zum Beispiel Brotbeutel mit Kochgeschirr und Feldflasche, sachte abzulegen. Während wir dann wieder im Schutz des Waldes nach Westen zogen, bemerkte ich rechts oberhalb des Dorfes einen russischen Geländewagen mit vier sowjetischen Offizieren. Schießen wurde uns verboten; es wäre vielleicht nur ein Fahrzeug, das sich verirrt hätte. Wir wollten nicht unbedingt auf uns aufmerksam machen.
Gebückt und lautlos setzten wir unseren Weg fort, immer Marschrichtung Südwesten bis zum Abend. Der Weg endete plötzlich und wir befanden uns außerhalb des Waldes an einem Dorfrand. Dort war ein kleiner Bach, den wir dann einzeln schleichend aufsuchten, um uns an dem köstlichen Wasser zu laben. Daselbst tauchten auch einige Gestalten auf; ihre Nationalität konnten wir nicht identifizieren. Sie sprachen deutsch wie eben in Grenzgebieten üblich. Es war 23 Uhr, ich schlief ein, wurde etwa eine halbe Stunde später wach und wollte wieder auf meine Uhr schauen. Sie war weg. Ich konnte nicht begreifen, wie das zugegangen war. Es war sonderbar. Weder meine Kameraden noch ich hatten etwas bemerkt. Die Uhr befand sich immer in meiner Uhrentasche rechts unter dem Hosenbund.
Es war eine Taschenuhr Marke Revue, die mir die Cousine meiner Mutter, die Frau von Juwelier Friedrich Müller, Bahnhofstraße, Siegen, besorgt hatte und die ich nach meinem Fronturlaub Weihnachten 1943 mit in den Krieg nahm. Dafür ließ ich meine silberne mit Gold versehene Taschenuhr, mein Patengeschenk von Emma Lang, Hilchenbach, zu Hause.
Am 17. Juli, morgens früh, etwa 6 Uhr – die Pferde konnten nichts fressen, da auch sie halb verdurstet waren – wägten wir uns in Sicherheit und zogen los! Nach etwa 10 Minuten Hü und Hott gab es auf einmal eine Knallerei und Hurrää-Gebrüll. Wir befanden uns vor der russischen Stellung am Waldrand. Mit einem Angriff unsererseits hatte der Russe wohl nicht gerechnet, denn teilweise lagen die Burschen noch in ihren Schützenlöchern; sie wurden im Nahkampf überrumpelt und bis vor die Stadt Sokal getrieben! Uns Deutschen hatte man plausibel gemacht, hinter dem Bug hätte die 20. Panzerdivision eine feste Stellung als zweite Frontlinie aufgebaut!!! Alle Verwundeten wurden hinter zwei Häusern in Sicherheit gebracht. Wir nahmen an, dass es sich hier nur um eine kleine Vorhut gehandelt hatte, die es zu besiegen galt, um uns über den Fluss in die dort angeblich verlaufende deutsche Frontlinie zu retten. Falsch gedacht! Nachdem wir viermal vergeblich angegriffen hatten, mussten wir uns vor der Übermacht der Russen und ihren zwei Panzern in den Wald zurückziehen. Später in Gefangenschaft berichtete Unteroffizier Raufeiser, er hätte mit Absicht Sokal viermal angegriffen, er hätte doch noch 400 Zigaretten auf einem Fahrzeug gehabt! Mich traf der Schlag. So etwas war Vorgesetzter, den man zu grüßen und zu respektieren hatte! Armes Deutschland! Unsere Verwundeten mussten wir leider zurücklassen. Einen von ihnen namens Judkuhn aus dem Trakehner Gestüt Eitkunen trafen wir Ende August 1944 in Przemyśl 6 im Lazarett eines Kriegsgefangenenlagers. Er berichtete, dass ihn die russische Ärztin gut versorgt und behandelt habe. Wir waren damals sehr überrascht so etwas zu hören, weil doch die Nazis uns die Rotarmisten nur als wilde Bestien dargestellt hatten. Auch ich musste feststellen, dass es dort auch menschliche Ärzte gab, worüber ich später im Bericht über meine Gefangenschaft in sibirischen Lagern, Lazaretten bzw. Krankenhäusern berichten werde.
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