Er schläft schlecht, hat keinen Hunger und fühlt sich krank. Er vergisst Dinge, die man sonst eigentlich weiß. Er kann sich auf einmal schlecht orientieren und er verfährt sich mit seinem Auto, auch auf völlig gewohnten Wegstrecken. Die Erschütterung durch den Tod seiner Frau wirkt wie eine Bedrohung auf ihn.
Silke ist von einem Moment auf den anderen auf sich selbst gestellt. Sie schafft es nicht, ihren Vater aus der tiefen Trauer zu holen. Im Gegenteil! Silke muss hilflos zusehen, wie er sich Stück für Stück selbst vernichtet. Es kommt wie es kommen muss. Er verliert seinen Job. Seither geht er nicht mehr aus dem Haus, grübelt nur noch vor sich hin. Seine Tochter existiert in dieser desastösen Zeit nicht mehr für ihn. Er scheint vergessen zu haben, dass er Verantwortung für Silke trägt.
Ruth und Silke sind verzweifelt, klammern sich aneinander wie an einem Strohhalm. Sie trösten sich und geben sich gegenseitig Mut und Kraft, bis zu dem Tag, an dem Ruths Mutter ihrer Tochter den Umgang mit Silke verbietet. Warum, kann weder Silke noch Ruth verstehen. Beide vermuten, dass Christin wieder die Übeltäterin ist.
Der Hass gegenüber Christin wächst ins Unermessliche. Heimlich treffen sich Ruth und Silke erneut, obwohl die Zusammenkünfte schwieriger werden.
Wenn Ruth aus der Schule kommt, wird der Schlüssel in der Wohnung herumgedreht, sodass sie keine Möglichkeit mehr hat, die Verabredungen mit Silke einzuhalten. Ruth kann sich in solchen Situationen nicht beherrschen, denn sie weiß, dass ihre Schwester für dieses Desaster verantwortlich ist. Wenn sich Ruth die Gelegenheit bietet, sperrt sie Christin im Keller des Hauses ein und nimmt ihr den Wohnungsschlüssel ab. Ruth droht Christin, sie nach Strich und Faden zu verprügeln, wenn sie ihr das Leben weiterhin zur Hölle macht.
Ab und zu droht sie in ihrem Hass Christin, indem sie ihr zuflüstert: „Denk daran, der Teufel geht niemals zum Engel und der Engel nie zum Teufel! Überlege dir, in welche Richtung du dich zukünftig bewegst.“ Nach solchen giftigen Worten bekommt Christin Angst und rennt anschließend schreiend zu der Mutter.
Die heimlichen Treffen mit Ruth gehen auch Silke psychisch an die Substanz; gleichzeitig helfen sie ihr kurzfristig über die tiefe Todestrauer ihrer Mutter hinweg.
Eines Tages nimmt ihre Mutter eine Stelle in der Strumpffabrik an. Sie argumentiert, dass ihr die Decke auf den Kopf fällt und sie deshalb arbeiten muss.
Von diesem Tag an überlässt sie auch Christin sich selbst.
Sie bekommt einen Schlüssel um den Hals gehängt, damit sie nach der Schule nicht auf der Straße steht. Christin hat ihren achten Geburtstag gefeiert und besucht die zweite Klasse der Grundschule. Die Atmosphäre in der Familie wird immer kälter und gefühlloser. Christin jedoch wird weiterhin Puderzucker in den Hintern geblasen. Sie nutzt den Streit ihrer Eltern, um diese gegeneinander auszuspielen. So schafft sie es, dass ihr alles erlaubt und kein Wunsch abgeschlagen wird.
Ruth und Silke treffen sich weiterhin heimlich im nahe gelegenen Wald. Obwohl sie überhaupt nicht schmecken, rauchen sie Zigaretten, die Silke ihrem Vater entwendet. Sie trösten sich mit Schnaps, den Ruth heimlich aus der Flasche ihres Vaters umfüllt. Sie schmieden Pläne für die Zukunft; sie wollen gemeinsam diesem bedrückten Dasein entrinnen.
Im Spätsommer, an einem Freitagnachmittag, sieht Ruth einen Möbelwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Sie ahnt Schlimmes! Sie sprintet über die Straße und läuft direkt in die Arme von Silkes Vater.
Zutiefst erschrocken sieht sie ihn an und betrachtet ihn.
Ach du Schreck, der ist aber abgemagert!, durchfährt es sie. Der sieht ja aus wie der Tod auf Latschen! Groß und dürr steht er steif wie ein Stock und kerzengerade mit seinen breiten, knochigen Schultern. Die Augen liegen tief eingegraben in seinen Augenhöhlen. Die Wangen sind eingefallen und tiefe Falten durchfurchen sein Gesicht.
Sein Mund mit den zusammengekniffenen, leicht bläulichen Lippen wirkt schmal. Seine Hose und sein Pulli schlappern an ihm herunter, so als ob er die Kleidung seines großen Bruders trägt.
Komisch, so ausgezehrt hat er noch nie auf mich gewirkt, denkt Ruth. Nun, ich habe ihn früher schließlich so gut wie nie gesehen. Ob er schon immer so ausgesehen hat?
Ruth schüttelt sich innerlich und sieht schockiert zu ihm auf. Aus dem Augenwinkel sieht sie Silke weinend an der Haustür stehen. Bestürzt rennt sie auf ihre Freundin zu. Sofort erkennt sie, dass der Umzugswagen Silke von hier fortbringen wird.
Die Welt der beiden Freundinnen zerbricht in tausend kleine Einzelstücke. Verzweifelt brüllen sie ihren Schmerz aus sich heraus. Keine der beiden kann sich vorstellen, sich künftig nicht mehr zu sehen, nicht mehr miteinander reden und sich nicht mehr gegenseitig trösten zu können.
Zehn Jahre sind sie Freundinnen. Sie fühlen sich wie Zwillinge, die füreinander verantwortlich sind. Jetzt, in diesem Augenblick, spüren sie leibhaftig, wie jeweils das Herz der anderen aus dem Körper herausgerissen wird. Sie halten sich eng umschlungen und finden keine Worte des Trostes.
Silkes Vater hat im wahrsten Sinne des Wortes versoffen, was er besaß. Nach dem Tod von Silkes Mutter hat er alles verloren; auch seine Arbeitsstelle. Die Wohnung ist gekündigt, weil er die Miete nicht mehr bezahlen kann. Nun wird er mit Silke nach Schweden zu seiner Schwester fliegen. Als diese von dem tödlichen Unglück ihrer Schwägerin erfuhr, war für sie klar, Silke und ihren Vater zu sich nach Schweden zu holen. Ihre Farm ist groß genug für sie alle. Außerdem braucht sie eine starke Hand, da auch ihr Mann vor einigen Jahren gestorben ist.
Die Möbel sind beschlagnahmt und versteigert.
Ruth soll Silke nie wiedersehen.
Mit Silkes Abreise ist Ruth im Inneren ihres Herzens in der Trauer um ihre beste Freundin gefangen. Sie kann es nicht verkraften, dass Silke nicht mehr greifbar und einfach aus ihrem Leben verschwunden ist.
Nachdem Silke abgereist ist, beginnen Ruths böse Träume und die Stunden des Schlafes werden immer kürzer.
Sie entfernt sich mehr und mehr aus der realen Welt und zieht sich in ihr von Panzern umgebenes Schneckenhaus zurück.
Mit vierzehn Jahren muss Ruth die Hauptschule verlassen. Sie ist aufsässig, schwänzt die Schule und verprügelt ihre Mitschüler, wenn sie als Feuermelder tituliert wird.
Sie klaut das Mofa vom Nachbarn und schafft es trotzdem nicht, mit dem Ding abzuhauen. Meistens ist zu wenig Sprit im Tank und sie kommt nur bis zur nächsten Ecke. Fluchend und wütend über sich selbst schiebt sie das Mofa wieder dorthin, wo sie es hergeholt hat.
Meistens wird sie dabei nicht erwischt.
Ihr Körper nimmt mehr und mehr eine Abwehrhaltung ein. Ohne Abschlusszeugnis verlässt Ruth am Ende der siebten Klasse die Hauptschule.
Von diesem Tag an verschwindet sie immer häufiger im Keller mit einer billigen Whiskyflasche, die sie heimlich ihrem Vater entwendet hat. Ist ihr persönlicher Alkoholpegel erreicht, fällt es ihr wesentlich leichter, die Veränderungen an ihrem Körper zu ertragen.
Sie muss hilflos zusehen, wie ihre Hüften breiter werden. Mit ohnmächtiger Wut muss sie erdulden, wie ihre Brüste Formen annehmen und sie es nicht verhindern kann. Das einzig Positive, was sie an sich sieht, ist, dass ihre Taille schlanker wird. An bestimmten Tagen leidet sie unter Krämpfen und Kopfschmerzen.
Ruth ist völlig überfordert und hilflos mit sich und ihrem Körper. Panikartige Angstzustände begleiten sie in den nächsten Wochen und Monaten. Sie ist wütend auf sich selbst, da sie die Veränderungen an sich nicht aufzuhalten vermag. Sie glaubt, ihr Körper entwickelt sich zu einem Vulkan, der jederzeit erneut ausbrechen kann. Ihre Gesichtszüge verändern sich, ihr Kinn wird markanter und ihre grünen Augen blicken in letzter Zeit glanzloser und ohne Wärme. Ihre zarte Haut wirkt fettig und Pickel blühen rund um ihr spitzes Kinn. Sie erschrickt vor ihrem eigenen Spiegelbild.
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