Gut gelaunt in der Küche angekommen, erkennt sie, dass der Frühstückstisch nicht gedeckt und Mutter nirgends zu sehen ist. Frustriert setzt sie sich an den Tisch und trommelt ungeduldig mit ihren kleinen Fingern auf die Tischplatte. Sie begreift in diesem Augenblick nicht, warum nicht wenigstens ihr heiß geliebter Vater an solch einem wichtigen Tag bei ihr ist. Bestimmt hat auch das mit meiner Schwester zu tun, denkt sie bitterböse.
Schmerzlich lenkt Ruth ihre Gedanken in Richtung Küchenuhr, damit sie nicht völlig durchdreht. Die Uhr kann sie schon lesen, darauf ist sie sehr stolz. Jetzt wünscht sie sich, dass es nicht so wäre; gebannt starrt sie auf die übergroßen Zeiger. Der kleine Zeiger bewegt sich erbarmungslos und unaufhörlich weiter, ohne dass ihre Mutter zu sehen ist. Es wird halb zehn und der Minutenzeiger tickt kaltblütig Runde für Runde. Wie mit einem Donnerschlag schlägt die Uhr die zehnte Stunde am Morgen. Entgeistert schaut sie zur Tür und glaubt noch immer, dass ihre Mutter mit einer Schultüte im Arm in die Küche geschwebt kommt.
Doch nichts dergleichen geschieht! Weder wird eine Schultüte aus dem Schrank gezaubert noch taucht ihre Mutter in Sonntagskleidung auf, um sie zur Schule zu begleiten. Ruth wartet geduldig, doch nirgendwo ist etwas von ihr zu sehen oder zu hören.
Ruth spürt, wie es ihr heiß den Rücken herunterläuft und ein unbändiger Zorn in ihr aufsteigt. Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen und ihr Kopf läuft von einer Sekunde zur anderen rot an. Sie stampft hart mit ihrem Bein auf den Boden und schreit, was ihre Kehle hergibt. Ruths Hände jucken schon wieder verdächtig und schlagartig erscheinen kleine Bläschen auf dem Handrücken.
Ihre Mutter hört dieses ständige Klopfen auf den Boden und das wütende Geschrei ihrer Tochter.
Entrüstet kommt sie in die Küche gestampft und brüllt Ruth erbost an: „Was ist denn in dich gefahren; merkst du nicht, dass deine kleine Schwester schläft? Willst du sie mit deinem Getrampel und Geschrei etwa aufwecken? Mich hast du schon geweckt, ein paar Stunden Schlaf hätte ich noch gebrauchen können. Deine Schwester hat fast die ganze Nacht geschrien.“
Ruth erstarrt bei diesen mürrischen Worten und kann ihre Empörung, ihren Seelenschutt und die bittere Enttäuschung nun nicht mehr für sich behalten. Sie schreit zurück:
„Meine Schwester soll sich zum Teufel scheren, sonst packe ich sie und werfe sie in den Müllschlucker. Vielleicht merkst du dann, dass ich auch noch da bin! Soll ich jetzt etwa von der Schule wegbleiben, wegen der blöden Kuh?! Willst du das wirklich?
Hast du mich gefragt, ob ich überhaupt eine Schwester will?“
Zornestränen laufen Ruth über das gerötete Gesicht, ohne dass sie etwas dagegen tun kann. Ihre Hände sind geschwollen von den vielen Eiterbläschen auf dem Handrücken. Sie muss sich unaufhörlich kratzen. Sie reibt ihre Hände blutig. Sie kann diese Bläschenattacken auf ihrem Handrücken nicht verhindern.
Mit scheinbarer Bestürzung in den Augen und offenem Mund starrt Mutter sie an und fragt erschrocken: „Bist du sicher, dass es heute ist? Hm, das habe ich wohl vergessen.“
Ohne ein weiteres tröstendes Wort dreht sie sich um und geht zu dem schreienden Baby. Mit ihrer Schwester auf dem Arm nimmt sie die Jacke vom Haken und befiehlt Ruth, die Schultasche, die verloren in einer Ecke in der Küche steht, an sich zu nehmen.
Schnellen Schrittes laufen sie über die Straße zur Nachbarin Frau Mahler. Unbeherrscht und laut klopft Ruths Mutter an deren Wohnungstür und wartet ungeduldig darauf, dass sich die Tür öffnet. Silkes Mutter, eine große, korpulente Frau im schicken Kostüm und mit gepflegtem Aussehen, öffnet die Wohnungstür.
Ruths Mutter steht Frau Mahler mit einer speckigen Kittelschürze und ungewaschenen, mittellangen dunkelbraunen Haaren, die mit Lockenwicklern zusammengehalten werden, gegenüber. Ruth sieht betroffen zu Boden; die Situation ist ihr peinlich und sie schämt sich für die Aufmachung ihrer Mutter. In diesem Augenblick wünscht sie sich, dass unter ihren Füßen ein großes Loch aufgeht und sie mit Haut und Haaren verschlingt.
Mit süffisantem Lächeln auf den Lippen fragt Ruths Mutter Frau Mahler: „Könnten Sie meine Tochter mit zur Einschulung nehmen? Ich schaffe es nicht, Sie sehen ja, ich habe das Baby im Arm und mein kleiner Engel hört einfach nicht auf zu schreien!“
Ruth ist diese Situation sehr unangenehm und sie fühlt sich in ihrer Haut nicht wohl. Nach einer peinlichen Schweigeminute fragt Silkes Mutter: „Wo haben Sie denn Ruths Schultüte gelassen?“ Erstaunt erwidert Ruths Mutter: „Welche Schultüte? Ach ja, die Wundertüte mit Überraschungen. Oh, die habe ich glatt vergessen zu besorgen; es ist halt schwierig mit noch einem Baby“, schiebt sie noch entschuldigend hinterher.
Frau Mahler ist entsetzt über diese gefühllose Frau; sie atmet tief durch, bevor sie erwidert:
„Gut, Silke, teilt die Tüte mit Ihrer Tochter, schließlich sind sie ja Freundinnen.“ Hastig zieht Frau Mahler Ruth in die Wohnung und schließt die Tür hinter sich. Sie atmet einmal tief durch und schüttelt ihren Kopf, als sie leise vor sich hin murmelt: „Was für eine fürchterliche Mutter!“
Ruth ist ebenso sprachlos und diese Sprachlosigkeit nimmt ihr die Luft zum Atmen. Erneut bricht ihre kleine Welt zusammen. Sie kann die Tränen der Bitterkeit nicht zurückhalten. Silke nimmt ihre Freundin stillschweigend in den Arm, aber sie kann sie nicht trösten. Ruth hat in kürzester Zeit die zweite seelische Ohrfeige durch ihre Mutter erhalten. Ihr kleiner hübscher Kopf kann nicht begreifen, warum Mutter ihr gegenüber plötzlich so herzlos ist.
Ruth versteht auch nicht, warum ihr Vater sie an solch einem für sie so wichtigen Tag nicht unterstützt.
Bis vor einigen wenigen Wochen war sie doch noch sein Liebling.
Sie begreift diesen Wandel nicht und gibt sich die Schuld an der plötzlichen Herzlosigkeit ihrer Eltern.
Laut schluchzt sie auf und nuschelt: „Nicht einmal eine Schultüte bin ich mehr wert.“
Hilflos und wütend zugleich saust Ruth aus der Wohnung ihrer Freundin. Diese soll nicht sehen, wie ihre Gefühle Achterbahn fahren. Sie setzt sich vor die Haustür und schaut starr auf den Asphalt der Straße. Frau Mahler folgt ihr und legt tröstend die Hand auf Ruths Schulter. Aufmunternd sagt sie zu ihr: „Komm, kleine Ruth, wir gehen jetzt gemeinsam zur Einschulung und feiern anschließend eine kleine Party. Du wirst sehen, wie schnell die Jahre vorüberziehen, und wenn du erst einmal erwachsen bist, dann wirst du darüber lachen. Ganz bestimmt.“
Lieblos gelebte Jahre ziehen vorüber und Ruth kann ihrer Mutter nicht verzeihen, dass sie die Einschulung, die ihr so wichtig war, vergessen hat. Es wird nie wieder, auch nicht ansatzweise darüber gesprochen. Ruth leidet seit dem Tag der Geburt Christins an Liebesentzug und fühlt sich fremd in dieser Familie. An ihrem zehnten Geburtstag stellt sie ihre Mutter zur Rede. „Sag mal, warum behandelst du mich wie eine Magd und nicht wie dein Kind?“ Kaum hat Ruth diese Frage ausgesprochen, da bereut sie es auch schon sie gestellt zu haben; sie ahnt bereits, dass ihr die Antwort der Mutter nicht guttun wird. Ihre Mutter sieht sie entgeistert an, so als habe sie die Frage nicht verstanden. Nach einer kurzen Gedankenpause holt sie tief Luft und antwortet erst leise, dann immer lauter, bis die Sätze schließlich hysterisch aus ihr herausgepresst kommen: „Ich wollte dich nicht, du warst ein Kind der Sünde und ich war noch viel zu jung. Geheiratet habe ich einen Offizier, den ich kaum gekannt habe. Es ist die Hoffnung gewesen, durch die Heirat ein erträglicheres Leben zu führen.
Doch als er seinen Sonderurlaub bei mir verbracht hat, wurde ich schwanger. Als er ging, kam er nicht mehr aus dem Krieg zurück. Die Monate der Schwangerschaft musste ich alleine durchstehen. Damals, als du noch in meinem warmen Körper warst, wollte ich dich unbedingt heraushaben. Doch du, du hattest einfach noch keine Lust, geboren zu werden. Dann musste ich dich mit aller Gewalt herauspressen und du kamst mit dem Hintern zuerst in diese Scheißwelt.
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