Margarete van Marvik
Manche Engel sterben früh
Copyright (2016) Margarete van Marvik
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Mein besonderer Dank gilt
Lektorat, Korrektur
Alexandra Eryiğit-Klos
www.fast-it.net
Buchcover und Gestaltung
Wolfgang Metz
Inhaltsverzeichnis
Manche Engel sterben früh Manche Engel sterben früh Fünfzehnter August 1964 Ruth spürt die Kälte, die ihre Muskeln lähmen, nicht. Jegliches Leben ist aus ihren Adern gewichen. Sie fühlt nicht die Nässe in ihrer Kleidung, die den gesamten Körper erzittern lässt. Sie schaut ins Leere ‒ in ein tiefes schwarzes Loch. Ihr Gesicht ist geschwollen von den vielen Tränen der Ratlosigkeit. Das Tagebuch ihrer kleinen Schwester hält sie, eingewickelt in eine Plastiktüte, so fest in ihrer Hand, dass die Knöchel an ihren Fingern weiß hervortreten. Sie fühlt sich ausgebrannt und murmelt immerzu: „Hätte ich die Tragödie wirklich verhindern können? Bin ich alleine schuld an ihrem Tod?“ Erneut wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Sie fühlt sich schuldig, schuldig am Tod ihrer kleinen Schwester. Die vorbeilaufenden Menschen sehen mitleidvoll auf die junge zierliche rothaarige Frau mit dem Pagenkopf. Ruth sitzt zusammengesackt auf einer Bank, unmittelbar an dem Tor zum Friedhofsgelände. Fröstelnd presst sie ihre Arme, die Plastiktüte fest in der rechten Hand haltend, an ihren Körper. Die verwischte Schminke läuft in schwarzer und hellblauer Farbe von ihren Wimpern an ihren Wangen herunter. Geistesabwesend wischt sie die verlaufene Farbe mit dem linken nassen Ärmel ihrer hellen leichten Jacke aus dem Gesicht. Die tröstenden Worte einer fremden Frau, die neben ihr stehen geblieben ist, hört sie nicht. Alles um sie herum wirkt beklagenswert und öde. Selbst der Himmel mit seinen tief hängenden Wolken scheint in diesem Moment ihrer Trauer und ihrer Hilflosigkeit zuzustimmen. Nichts, aber auch gar nichts spürt sie von dem warmen Sommerregen am fünfzehnten August 1964, ihrem Lieblingsmonat. Ruth ist abgetaucht in die Vergangenheit, in einen Abschnitt ihres jungen Lebens, den sie so gerne hinter sich gelassen hätte. Mit brachialer Gewalt, wie ein Bumerang, kommt ihre Kindheit zu ihr zurück. Der warme Sommerregen, der unaufhaltsam an ihrer leichten Sommerjacke herunterprasselt, stört sie nicht. In Gedanken reist sie zurück in ihre Kindheit.
Rückblick
Ruths Geburtstag
Wegzug aus Heidelberg
Ruths Zuhause
Die Einschulung
Bittere Worte
Die Schulzeit
Das erschütternde Erlebnis
Tiefe Trauer um Silke
Flegeljahre
Bittere Erkenntnis
Auf dem Weg nach Berlin
Eine neue Perspektive
Eine eigene kleine Wohnung!
Gustav und Christin
Die Familie zerbricht
Gustavs Vergangenheit
Ankunft in Heidelberg
Eine trostlose Zukunft
Christin in Berlin, 28.Juli 1964
Christins Tagebuch
Tagebucheintrag 10.August 1963
Tagebucheintrag 16.August 1963
Tagebucheintrag 15.September 1963
Tagebucheintrag 20.September 1963
Tagebucheintrag 29.September 1963
Tagebucheintrag 04.Oktober 1963
Tagebucheintrag 13.Oktober 1963
Tagebucheintrag 16. Oktober 1963
Tagebucheintrag 20. Oktober 1963
Tagebucheintrag 22. Oktober 1963
Tagebucheintrag 08. November 1963
Tagebucheintrag 15. Dezember 1963
Tagebucheintrag 19. Dezember 1963
Tagebucheintrag 22. Dezember 1963
Tagebucheintrag Februar 1964
Tagebucheintrag April 1964
Tagebucheintrag 04. Mai 1964
Tagebucheintrag 15. Mai 1964
Tagebucheintrag Juni 1964
Tagebucheintrag Ende Juni 1964
Tagebucheintrag Anfang Juli
Tagebucheintrag Mitte Juli 1964
Tagebucheintrag Juli 1964
Tagebucheintrag 26. Juli
Letzter Tagebucheintrag 01. August 1964
Ruth ist zurück in der Gegenwart
Ruths Seelenpein
Zurück zu den Wurzeln
Karlsruhe
Mutter
Walter
Gustav
Das Wiedersehen
Die gnadenlose Wahrheit
Vater im Krankenhaus
Der unendliche Schmerz
Brief an Gudrun
Die Überführung
Der Abschied
Auge um Auge
Der nächtliche Besuch
Margarete van Marvik
Abriss „Albtraum“
Manche Engel sterben früh
Fünfzehnter August 1964
Ruth spürt die Kälte, die ihre Muskeln lähmen, nicht. Jegliches Leben ist aus ihren Adern gewichen. Sie fühlt nicht die Nässe in ihrer Kleidung, die den gesamten Körper erzittern lässt. Sie schaut ins Leere ‒ in ein tiefes schwarzes Loch.
Ihr Gesicht ist geschwollen von den vielen Tränen der Ratlosigkeit. Das Tagebuch ihrer kleinen Schwester hält sie, eingewickelt in eine Plastiktüte, so fest in ihrer Hand, dass die Knöchel an ihren Fingern weiß hervortreten. Sie fühlt sich ausgebrannt und murmelt immerzu: „Hätte ich die Tragödie wirklich verhindern können? Bin ich alleine schuld an ihrem Tod?“
Erneut wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Sie fühlt sich schuldig, schuldig am Tod ihrer kleinen Schwester.
Die vorbeilaufenden Menschen sehen mitleidvoll auf die junge zierliche rothaarige Frau mit dem Pagenkopf.
Ruth sitzt zusammengesackt auf einer Bank, unmittelbar an dem Tor zum Friedhofsgelände. Fröstelnd presst sie ihre Arme, die Plastiktüte fest in der rechten Hand haltend, an ihren Körper.
Die verwischte Schminke läuft in schwarzer und hellblauer Farbe von ihren Wimpern an ihren Wangen herunter. Geistesabwesend wischt sie die verlaufene Farbe mit dem linken nassen Ärmel ihrer hellen leichten Jacke aus dem Gesicht. Die tröstenden Worte einer fremden Frau, die neben ihr stehen geblieben ist, hört sie nicht. Alles um sie herum wirkt beklagenswert und öde. Selbst der Himmel mit seinen tief hängenden Wolken scheint in diesem Moment ihrer Trauer und ihrer Hilflosigkeit zuzustimmen.
Nichts, aber auch gar nichts spürt sie von dem warmen Sommerregen am fünfzehnten August 1964, ihrem Lieblingsmonat.
Ruth ist abgetaucht in die Vergangenheit, in einen Abschnitt ihres jungen Lebens, den sie so gerne hinter sich gelassen hätte. Mit brachialer Gewalt, wie ein Bumerang, kommt ihre Kindheit zu ihr zurück. Der warme Sommerregen, der unaufhaltsam an ihrer leichten Sommerjacke herunterprasselt, stört sie nicht. In Gedanken reist sie zurück in ihre Kindheit.
Ruth ist am achtzehnten Juli 1943 in Heidelberg geboren und es sind nur noch zehn Tage bis zu ihrem siebten Geburtstag. Ihren richtigen Vater kennt sie nicht; er ist vor ihrer Geburt im Krieg gefallen. Ihren Stiefvater himmelt sie an, denn er ist groß, blond und stark.
Der 8. Juli 1950 ist ein wundervoller warmer Sommertag. Ruth freut sich auf diesen Nachmittag, denn sie wird mit ihrem Papa ins Schwimmbad gehen. Seit vier Wochen streicht sie jeden Abend auf ihrem eigens hierfür gebastelten Kalender einen Tag ab.
Den heutigen und letzten Tag des Wartens hat sie mit einem ganz dicken schwarzen Stift durchgestrichen. Ihre Badesachen sind schon seit Tagen gepackt, sodass sie die Tasche nur noch greifen muss.
Ruth ist ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Ihre roten, leicht welligen Haare, die sie schulterlang trägt, lassen sie wie einen kleinen Engel erscheinen. Aus ihren grünen Augen sprüht der pure Schabernack.
An diesem Tag stürmt Ruth in die Wohnküche; sie will direkt in Papas Arme fliegen, da … Jäh bleibt sie an der Türschwelle stehen, als sie erkennt, dass er nicht wie sonst in der Küche steht, wenn sie sich etwas vorgenommen haben.
Eine beklemmende Stille breitet sich im Raum aus. Zum ersten Mal hört sie das laute Ticken der uralten Küchenuhr, die sie überhaupt nicht leiden mag. Zutiefst enttäuscht, dass sie ihrem Dad nicht in die Arme fliegen kann, sieht sie sich wütend um und spricht trotzig mit sich selbst: „Er ist nicht da!“ Anklagend zieht sie ihre Schultern nach oben und lässt sie mit einem Ruck wieder nach unten fallen. Ihre gute Laune ist dahin und zornig ruft sie: „Dad, wo bist du? Sag doch etwas! Hast du vergessen, dass wir heute schwimmen gehen wollen?“ Demonstrativ steht sie in der Küche und wartet mit verschränkten Armen auf eine Antwort.
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