Doch nicht ihr Dad antwortet ‒ nein ‒ ein Babygeschrei aus dem angrenzenden Schlafzimmer dringt unüberhörbar zur Küche herüber.
Kritisch sieht sie sich um und hält die Luft an. Habe ich richtig gehört?, denkt sie verstört. Skeptisch legt sie den Kopf zur Seite und geht, einen Fuß vor den anderen setzend, in Richtung Schlafzimmer. Die Tür ist nur angelehnt; leise tastet sie sich näher heran und schiebt die Tür einen Spalt auf. Was sie sieht, raubt ihr den Atem!
Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund geht sie, mechanisch von einer unsichtbaren Hand gezogen, auf das Bett ihrer Mutter zu. In diesem Augenblick versteht und registriert sie in ihrem kleinen Kopf, wer ihren schönen Sommertag im Schwimmbad mit ihrem Dad zerstört hat.
Es ist das Baby im Arm ihres Vaters!
Wie vom Blitz getroffen starrt sie auf dieses schreiende Etwas in Papas Armen. Immer noch geschockt fragt sie ihren Vater stotternd: „W-wann gehen wir ins Schwimmbad? D-du hast doch versprochen, heute mit mir schwimmen zu gehen!“ Ihr Dad hört ihre Frage jedoch gar nicht, er ist völlig hin und weg vom Anblick seines Kindes.
Stattdessen ruft die Mutter ihr zu: „Sieh mal, das ist deine kleine Schwester; willst du sie nicht auf unserer Welt willkommen heißen?“ Willkommen heißen?! Widerwillig bewegt sich Ruth einen Schritt vorwärts zum Bett ihrer Mutter und muss zusehen, wie ihr Dad mit verklärtem Blick das Baby umschlungen hält. Verständnislos wandert ihr Blick zu ihrer Mutter, dann zu ihrem Vater und zuletzt zu dem Baby. Ruth fühlt sich restlos verraten von ihrem Dad, der wegen eines Babys die gemeinsame Verabredung hat platzen lassen.
Und was soll an diesem hässlichen Etwas mit knallrotem Kopf gefälligst schön sein?, geht es ihr durch den Kopf. Außerdem sind da, wo die Augen sein sollen, nur eitrige Schlitze zu sehen. Und sabbern tut die auch noch ‒ igittigitt!
Völlig aufgebracht, dass man ihr einfach so eine Schwester präsentiert, verschränkt sie trotzig die Arme. Um ihrer Empörung Nachdruck zu verleihen, stampft sie mit ihren kleinen Füßen mit aller Kraft auf den Boden.
Die Gedanken in Ruths kleinem Gehirn wirbeln wild durcheinander. Ich will doch gar keine Schwester; ich bin glücklich so, wie es ist, und das soll sich auch nicht ändern!
Mit gewaltiger Wucht wird ihr plötzlich klar, dass der kleine Störenfried ihr Leben verändern wird. Verzweifelt schreit sie: „Was ist auf einmal los mit euch, warum habt ihr mir nichts davon gesagt? Was habe ich falsch gemacht? Ihr wollt mich nicht mehr, deshalb habt ihr euch noch ein Baby gemacht, gebt es zu! Wir haben bisher doch so viel Spaß gehabt, auch ohne das Baby! Was habe ich euch denn getan?“
Ruth schluchzt vor innerer Zerrissenheit laut auf. Sie versteht ihre Eltern nicht mehr und glaubt mit einem Mal zu wissen, dass sie nicht mehr der Liebling ihres Vaters sein wird.
Sichtlich beherrscht zischt ihre Mama, die nun ebenfalls zornig geworden ist und offensichtlich kein Verständnis für Ruths seelischen Ausbruch hat, zurück: „Das verstehst du nicht Ruth, dafür bist du noch viel zu klein. Christin ist jetzt deine kleine Schwester. ‒ Basta! ‒ Keine Widerrede mehr, geh auf dein Zimmer.“
Vor lauter Zorn und Hilflosigkeit rennt Ruth weinend aus dem Schlafzimmer. Chaotische Gedanken schlagen in ihrem winzigen Kopf Purzelbäume und sie fragt sich immerzu: Was habe ich falsch gemacht? Warum wollen die plötzlich ein anderes Baby haben? Bin ich nicht mehr hübsch genug? Genüge ich ihnen nicht mehr zum Liebhaben? Warum haben sie mir nicht gesagt, dass Mama ein Baby im Bauch hat?
Ruth erholt sich relativ schnell von ihrem ersten Schock. Seit ihre Schwester Christin auf der Welt ist, verbringt sie die meisten Tage bei ihrer Freundin Silke. Gemeinsam planen sie Ruths Geburtstagsparty, so wie jedes Jahr. Ruth wird ihren siebten Geburtstag feiern und freut sich auf die Einschulung Ende August. Letztes Jahr war sie durch eine Lungenentzündung ans Bett gefesselt gewesen. Die Einschulung ist daraufhin auf dieses Jahr verschoben worden. Darüber ist sie sehr traurig und enttäuscht gewesen.
Die Tage bis zu ihrem Geburtstag vergehen wie im Flug. Ruth glaubt ganz fest daran, dass ihre gemeinsame Mutter Gudrun, wie in den Jahren zuvor, die Feier ausrichten wird. Traurig ist sie allerdings, dass ihr Vater an ihrem Ehrentag keine Zeit für sie haben wird. Zwei Tage zuvor hat sie noch auf seinem Schoß gesessen, als er ihr entschuldigend erklärt hat: „Weißt du, als Polizist darf ich nicht einfach meinen Dienstplan ändern, außerdem muss ich Sonderschichten einlegen, damit ich euch ernähren kann, und überdies wollen wir doch aus diesem Loch hier raus. Das geht nur, wenn wir genügend Geld gespart haben. Du weißt, deine kleine Schwester Christin braucht noch zusätzlich Windeln, Milch und vieles mehr. Das muss alles erst verdient werden.
Es tut mir leid, meine Große, aber es geht wirklich nicht. Ich verspreche dir aber ganz fest, gemeinsam mit dir und deiner Freundin Silke ins Kino zu gehen. Es läuft gerade dein Lieblingsfilm Das doppelte Lottchen.“ Ruth nimmt an diesem Abend die Erklärung ihres Vaters mit Enttäuschung hin; innerlich kocht sie vor Wut und grummelt in sich hinein: Schon wieder steht die blöde Schwester dazwischen. Wegen ihr gibt es schon seit Tagen nur Margarine mit Zucker auf dem Brot oder Brotsuppe mit dem Rest der übrig gebliebenen Milch. Oh Mann, wie sehr ich das hasse, und das alles nur wegen der blöden Schwester.
Ruth schiebt ihre Rachegedanken, die sie gerade übermannen, zur Seite und versucht sich auf den Kinobesuch zu freuen. Es ist für sie und ihre Freundin eine Seltenheit, einen Film auf so einer großen Leinwand zu sehen, denn einen Fernseher besitzen sie nicht, lediglich ein altes Radio.
Neugierig springt sie an diesem für sie so wichtigen Geburtstag aus ihrem Bett. Gut gelaunt zieht sie ihren dunkelblauen Trägerrock mit der weißen Rüschenbluse an. Diese Farbkombination mag sie gern, es passt gut zu ihren roten Haaren. Kindlich dreht sie sich vor dem Spiegel um die eigene Achse. Sie ist zufrieden mit dem, was sie sieht. Ruth lächelt ihrem Spiegelbild zu und flüstert: „Heute bin Ich etwas Besonderes und nicht meine blöde Schwester Christin.“
Vor einigen Tagen hat sie im Traum ihr buntes Fahrrad vor ihrem Bett stehen sehen. Sie war restlos enttäuscht, dass es nur eine Illusion gewesen ist.
Ihrer Mutter hatte sie das bunte Fahrrad im Fahrradladen Schiller auf dem Weg zum Einkaufen gezeigt. Es ist ein wunderschönes gebrauchtes Rad, mit knallgelbem Sattel, gelben Schutzblechen und gelber Klingel. Der Rahmen ist blau-weiß gestrichen. Ruth hat sich restlos in dieses Rad im Schaufenster verliebt. Sie nutzt jede Möglichkeit, der Mutter zu erklären, warum sie sich dieses Vehikel so sehr wünscht. Einen Schulbus gibt es noch nicht. Ruth erschaudert schon allein bei dem Gedanken, bei Hitze, Regen oder Schnee den langen Schulweg mit einer schweren Schultasche laufen zu müssen.
Mit gemischten Gefühlen geht sie in die Wohnküche. Ihre Mutter ist bereits damit beschäftigt, Christin zu wickeln. Sie scheint ziemlich genervt zu sein, dass Ruth mit schleichendem Schritt die Küche betritt.
Argwöhnisch setzt sich Ruth an den Tisch und stützt ihren kleinen roten Lockenkopf mit ihren Händen ab. Mit den Augen sucht sie in der Küche nach dem Fahrrad; es steht aber kein Rad im Raum! Es ist mucksmäuschenstill, sodass sie überdimensional die verhasste alte Küchenuhr ticken hört. Mit bösem Blick sieht sie dem gigantisch großen Zeiger, der wie ein riesiges Zeitmonster unaufhaltsam Minute für Minute weiterläuft, zu. Es vergehen zwanzig Minuten und ihre Mutter macht noch immer keinerlei Anstalten, ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Ruth schließt fest ihre Augen und wünscht sich inbrünstig, dass ein wohlwollender Geist ihr gewünschtes buntes Fahrrad mit dem knallgelben Sattel vor ihr abgestellt hat. Nach dieser inständigen Bitte öffnet sie vorsichtig ihre Augen und ist schrecklich enttäuscht.
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