1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Die Luft, die Marthe beim Öffnen der Bodentür entgegenströmte war zwar eiskalt, duftete aber angenehm nach frischem Holz. Auf dem staubigen Dielenboden häuften sich zerbrochene Dachziegel, Putz und Mörtel. Das Ganze sah so aus als hätte jemand mit einer Riesenfaust durchs Dach gestoßen. Bei näherem Hinsehen konnte sie konstatieren, dass die Wucht des Aufpralls auch noch fast die ganze Seite des Daches eingedrückt hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der ganze Dachstuhl nachgeben würde. So ein Schaden konnte nicht warten, schon gar nicht im Winter. Marthe hatte keine Vorstellung davon, was das hier kosten würde, hoffte aber inständig, dass ihre Nachbarn eine ordentliche Versicherung besaßen. Das war mal wieder typisch. Endlich hatte sie geglaubt, sich ausnahmsweise mal nicht um ihre Finanzen sorgen zu müssen, da kam es wieder alles dicke und jetzt stand sie hier mutterseelenallein in ihrem Millionenmärchenschloss mit Dachschaden. Sie musste wohl oder übel ihren Anwaltsengel anrufen, alleine bekam sie das hier nie geregelt. Verdammt, konnte nicht langsam mal irgendetwas in ihrem Leben problemlos verlaufen. Wütend trat sie gegen den Schuttberg und schrie vor Schmerz auf, als die Zehen in den dünnen Mokassins auf eine Dachpfanne trafen. Ein Ladung Mörtel rutschte zischend vom Gipfel des Trümmerberges zu Boden und gab die Ecke eines altmodischen braunen Koffers frei, der wie ein Toblerone Dreieck aus dem Schutt herausragte.
Der Koffer war schwer und obwohl Marthe beim Herausziehen sehr behutsam zu Werke ging, wirbelte sie hinreichend Staub auf, um die feinen Putzkörner bis zwischen die Zähne zu spüren. Vorsichtig versuchte sie den Grauschleier von der Strickjacke abzuklopfen, was die Sache nur noch schlimmer machte und entschloss sich hustend und niesend, ihre Beute nach oberflächlicher Reinigung im warmen Wohnzimmer näher in Augenschein zu nehmen. Als sie den Koffer unter Stöhnen und Ächzen in die Küche wuchtete, schrillte das Telefon. Mit einem erneuten Nieser wischte sie sich die Hände an der Hose ab und griff nach dem Hörer. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört, ich wollte nur hören, ob Sie den Sturm gut überlebt haben, sieht ja wirklich furchtbar aus, also die Bilder in den Nachrichten." Mads Grønholt. Marthe seufzte erleichtert, den hatte der Himmel geschickt. Wenn jemand all das hier schmerzlos für sie regeln konnte, dann er. Sie ließ eine warme Welle der Dankbarkeit durch die Leitung schwappen. „Danke der Nachfrage, ich schon, der Kater auch, aber die Ulme auf dem Nachbargrundstück leider nicht. Die liegt jetzt auf meiner Garage."
Mads Grønholt lauschte interessiert und kommentierte mit echter Anteilnahme in der Stimme. Sie konnte ihn vor sich sehen, den Kopf ein wenig schiefgelegt, einen konzentrierten Ausdruck in den leicht kurzsichtigen blauen Augen. „Haben Sie weitere Schäden, die durch den Baum verursacht wurden? Wagen, Garten, Garage. Sie sollten am besten ein Foto von allem machen.“ Marthe bemerkte, dass er automatisch in einen geschäftsmäßigen Ton überging und musste ein Lachen unterdrücken. Ein Anwalt, der einen Auftrag riecht.
„Ich glaube es ist am besten, wenn ich mal zu Ihnen rübergucke und das ganze persönlich in Augenschein nehme. Seine korrekte, etwas altmodische Aussprache wirkte beruhigend. Alles würde sich ordnen, er würde ihr schon weiterhelfen. „Haben Sie schon mit Ihren Nachbarn gesprochen?" „Nein, ich wollte …, also ich glaube die sind verreist." Sie kam ins Stottern und fühlte sich ertappt. Marthe war es plötzlich peinlich zuzugeben, dass sie sich seit ihrer Ankunft noch nicht einmal dazu aufgerafft hatte, sich bei ihren Nachbarn vorzustellen. Auch wenn sie die nachmittäglichen Spaziergänge des alten Paares schon öfters durchs Fenster beobachtet hatte. Solange niemand hier Marthe kannte, konnte sie sich die Illusion totaler Anonymität und Unerreichbarkeit bewahren. Und auf ein stundenlanges Gespräch über Enkel und Urenkel und die gute alte Zeit mit den beiden Alten von nebenan hatte sie bisher wahrlich keine Lust gehabt. „Warten Sie, bis ich komme, wir machen das dann gemeinsam. Ich bin in 15 Minuten bei Ihnen“. Und als wäre er sich plötzlich seiner Aufdringlichkeit bewusst geworden, fügte er noch rasch ein „also natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist", hinzu.
Eine Viertelstunde! Sie hatte Spinnweben in den Haaren, Schmutzstreifen auf der Stirn, Kalkflecken auf den Jeans und zwischen ihren Zähnen knirschte der Putz. Marthe stürzte unter die Dusche, fand das letzte Paar saubere Jeans und besprühte sich großzügig mit Chanel Nr. 5. Wenn sie mit etwas nicht zu geizen brauchte, dann war es Parfüm. Ihr Vorrat würde auch bei extrem großzügigem Einsatz für die nächsten paar Jahre reichen. Pünktlich vierzehn Minuten nach dem Anruf klingelte es an der Tür. Nett, zur Abwechslung mal ein Mann, der 15 Minuten meinte, wenn er 15 Minuten sagte. Marthe lächelte ihrem frischgewaschenen Spiegelbild zu und lief die Treppe hinunter.
„Also, ich glaube es ist am vernünftigsten, wenn Sie mir das erst mal alles überlassen. Familie Wagner ist ein alter Kunde unserer Kanzlei, wir kriegen das schon alles vernünftig geregelt, da brauchen Sie sich nicht auch noch mit zu beschäftigen.“ Er sandte ihr einen aufmunternden Blick und sagte mit einem fast mitleidigen Lächeln „ich schätze, Sie haben schon genug um die Ohren." Mein Gott, sehe ich wirklich so total hilflos aus, gleich tätschelt er mir wohl auch noch beruhigend die Wange, dachte Marthe. Aber stattdessen klappte Mads Grønholt seinen Block zu und verstaute ihn in der abgewetzten braunen Ledermappe. „Na, ich muss mal wieder. Danke für Kaffe und Kekse.“ Er erhob sich vom Küchentisch, zog seine Jacke vom Stuhlrücken, zögerte und sagte auf dem Weg in die Halle bewusst beiläufig „wenn Sie Zeit hätten, könnte ich Ihnen ja mal ein bisschen mehr von Kopenhagen zeigen, es gibt zur Zeit auch einige sehenswerte Kunstausstellungen." Er fummelte am Reißverschluss seiner Jacke herum „Ja, sehr gerne, außer dem Supermarkt an der Ecke und der nächsten Umgebung habe ich noch nicht viel gesehen”, log Marthe begeistert. „Und mit einem kundigen Eingeborenen ist es ja immer lehrreicher als auf eigene Faust!" „Ja dann - ja dann telefonieren wir einfach.“ Er gab ihr zum Abschied die Hand und Marthe registrierte eine Mischung aus Dankbarkeit, Erleichterung und wenn sie es richtig deutete freudiger Überraschung in seinem Gesicht.
Sie beobachtete durchs Fenster, wie er seinen alten Volvo aufschloss, sich eine Zigarette anzündete und sich hinter das Steuer schwang. Interessanter Typ eigentlich. Stolz dachte sie an ihre perfekt getimte Bemerkung mit dem Eingeborenen. Endlich einmal war es ihr gelungen, eine schlagfertige Antwort zum richtigen Zeitpunkt abzuliefern. Kann sein, dass er in ihr das hilflose Frauchen sah, das seiner Unterstützung bedurfte, aber für intellektuell beschränkt brauchte er sie nun wirklich nicht zu halten. Auf dem Weg in die Küche, bemerkte Marthe zu ihrem eigenen Erstaunen, dass ihre schlechte Laune über das Loch im Dach und Stefans Hinhaltestrategie verflogen war und sie sich bereits auf den kommenden Sonnabend freute. Mein Gott Marthe, du hast ein Date. Ein seriöses Date mit einem intelligenten, intellektuellen und darüber hinaus noch absolut gutaussehenden, charmanten Mann. Zwar etwas kurzsichtig, aber dafür augenscheinlich frei und ungebunden. Das erste Date seit jenem denkwürdigen Abend vor knapp einem Jahr in Brüssel, als Stefan sie im Hotel abholte, um mit ihr Essen zu gehen. Sie hatten das Hotel nie verlassen, waren einfach in den Fahrstuhl gestiegen und zurück auf ihr Zimmer gegangen, wo sie sich in den wenigen Kampfpausen über den Inhalt der Minibar hergemacht hatten.
Bis zu dieser Nacht, hatte Marthe ein unkompliziertes Sexleben gehabt, das sie in den kürzeren Perioden, wo sie keines hatte, nicht sonderlich vermisste. Sex gehörte zu ihrem Alltag wie die warmen Mahlzeiten. Manchmal fielen sie ein paar Tage aus, manchmal gab es nur einen schnellen Imbiss oder eine Pizza und ab und an auch mal ein ausgewachsenes 5-Gänge Menü mit allem Drum und Dran. Nach ihrer ersten Nacht mit Stefan fand sie heraus, was sie in all den Jahren, seit Norbert Rodwoski sie in der Gartenlaube seiner Großmutter entjungfert hatte, nicht empfunden hatte. Seit dieser Repremiere in einem auf Louis Quinze gefakten Hotelzimmer, änderte sich ihre Einstellung radikal und sie verbrachte einen beträchtlichen Teil der Zeit, in der sie nicht mit Stefan zusammensein konnte damit, sich auszumalen wie es sein würde, mit ihm zusammenzusein. Auf der Jagd nach ungestörten Treffpunkten lernte Marthe ihr bis dahin gänzlich unbekannte Hamburger Stadtviertel kennen und fand heraus, dass Grasflecken in weißer Baumwolle sich in normaler Kochwäsche nicht rückstandsfrei entfernen lassen. Stefan, wild, zärtlich, phantasievoll, phantastisch und unermüdlich. Beim Gedanken an ihn bekam Marthe plötzlich ein schlechtes Gewissen. Was mit Stefan? Tja, Stefan hatte seine reiche Frau nebst dito Schwiegervater, eine kleine Tochter, ein reguläres Familienleben. Also gab es absolut keinen Grund für ein schlechtes Gewissen ihrerseits! Und außerdem war das hier ja nur eine völlig harmlose Verabredung. Gemeinsamer Besuch einer Kunstausstellung mit nachfolgendem Essengehen. Der Mann war sicher Mitte vierzig, hatte die ersten grauen Haare und war Anwalt. Total harmlos.
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