Am Strand wurde es langsam ruhiger. Die Kanonensalven waren beendet. Nur die Spielzeugpistolen knallten hier und da. Als Luis ein weiteres Kapitel gelesen hatte, schaute er sich um. Vor ihm lag der Eingang des Hotels. Die schmale Straße davor war auf der einen Seite mit den Mietwagen der Gäste zugeparkt. Auch der silberne Kleinwagen von Madame, der kauzigen Hotelchefin, stand dort.
In diesem Augenblick kehrte das deutsche Paar zurück, das im Zimmer neben seinem untergebracht war. Er hatte sie am Abend zuvor kurz im Flur gesehen. Das Hotel war hellhörig, und die beiden waren nicht die ersten, deren sehr private Geräusche Luis in den letzten Wochen zu hören bekommen hatte. Jetzt allerdings wirkten sie alles andere als vergnügt. Luis winkte ihnen zu, sie übersahen ihn. Auch gut. Sie gingen hinein, doch aus irgendeinem Grund blieb das Bild der Frau auf seiner Netzhaut haften, sodass Luis sie in seinem Innern betrachten konnte. Er musste den Kopf schütteln, um es wieder loszuwerden. Es fiel hinab und hinterließ ein leichtes Kitzeln in der Magengrube.
Luis stand auf und wollte gerade zu seinem gewohnten Spaziergang zum Leuchtturm aufbrechen, als ein alter Mann mit zwei Flaschen Bier in der Hand vor das Hotel trat und auf ihn zukam. Luis setzte sich wieder und legte das Buch vor sich auf den Tisch.
»Auch kein Freund von großen Feiern«, stellte der Mann auf Französisch fest und reichte Luis eine Flasche. »Voilà!«
»Danke.«
»Ich schaue gerne zu. Aber zum Mitmachen bin ich zu alt«, sagte der Alte, nahm einen Schluck und Luis tat es ihm gleich.
Mit einem Nicken stellte er sich vor. »Eduard Ziguré, einfach Eduard.«
»Luis Rodriguez.«
»Wie der Boxer?«
»Ja, und wie der Fußballspieler, der US-Autor und wahrscheinlich noch Tausende andere mit diesem Allerweltsnamen.«
»Ein spanischer Name, ein spanisches Buch. Aber Du kommst aus Frankreich, oder?«
»Nein, ich bin Spanier. Mein Vater war Algerier und ist in Frankreich aufgewachsen. Daher die Sprache und die Farbe. Der Name kommt von meiner Mutter.«
»Hm, ich spreche nur Französisch, kann aber Spanisch ganz gut verstehen«, brummte Eduard.
»Mit Madame verwandt?«
»Ich bin ihr Vater.«
»Und jetzt zu Besuch?«
»Jetzt zu Besuch.«
Damit war die Unterhaltung der Wortkargen erschöpft. Sie saßen da und schauten ins Weite. Offensichtlich war ihnen ihre Gesellschaft nicht unangenehm. Obwohl lautes Stimmengewirr vom Strand heraufklang, war es durch das einvernehmliche Schweigen deutlich ruhiger geworden, als wenn einer der beiden hier alleine gesessen hätte.
Vom Strand her zog eine Gruppe von vier Mauren die Straße zum Hotel herauf. Alle vier trugen sie dunkle Sonnenbrillen. Ihre Gesichter waren geschwärzt. Vor dem Eingang blieben sie kurz stehen, zwei gingen hinein, die anderen beiden schlenderten über die Straße, um sich am Geländer der Terrasse stehend einen Überblick über die Reste der Schlacht zu gönnen. Wenig später kamen ihre beiden Freunde wieder aus dem Hotel heraus und winkten ihnen mit vier Bierflaschen zu. Sie hatten gerade die andere Straßenseite erreicht, da erschien Madame in der Tür.
»Bildet Euch ja nicht ein, die Flaschen mitnehmen zu können«, schimpfte sie laut hinter ihnen her. »Und wehe, Ihr werft sie aus lauter Vergnügen über das Geländer gegen die Felsen! Normalerweise verkaufen wir hier ausschließlich an Gäste. Damit Burschen wie Ihr uns nicht das Geschäft versaut.«
Die Mauren winkten ihr lachend zu und lieferten das Bier bei ihren Kameraden ab.
Hinter Madame stand das Zimmermädchen Gabriella, das sich nach dem Putzen der Zimmer ein Glas Rotwein gönnte und bei dieser Gelegenheit gerne ein Schwätzchen mit Madame hielt. Jetzt allerdings wollte sich Gabriella der Laune von Madame entziehen und kam auf die Terrasse.
»Bei Euch ist sicher noch Platz für mich«, sagte sie und griff nach einem Stuhl vom Nebentisch. Metall rieb über Stein. Sie positionierte den Stuhl so, dass sie die Bucht im Blick und das Hotel im Rücken hatte, und ließ sich seufzend nieder. Niemals hätte sie sich mit echten Hotelgästen an einen Tisch gesetzt. Das hatte sie Luis gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen erzählt. Erstens gehörte es sich nicht und zweitens hätten sie die Gelegenheit schamlos ausgenutzt, um mit ihr über den Zustand der Zimmer zu reden. Jetzt hatte sie frei. Diese beiden Männer hier sah sie als Ihresgleichen. Die Wanderarbeiter waren keine Gäste, eher normale Mieter, deren Zimmer sie nur alle zwei oder drei Tage reinigen musste.
Gabriella wunderte sich darüber, dass der Neue seit gestern auf dem Notbett im Geräteschuppen schlief. Die Nächte waren noch recht kalt und überhaupt: In seinem Alter konnte er doch eigentlich nicht mehr auf dem Bau arbeiten. Als sie Madame vorhin darauf angesprochen hatte, erhielt sie nur heftiges Kopfschütteln als Antwort, was Gabriella wiederum als Zustimmung interpretierte: Eine Schande, dass der Alte noch arbeiten musste, dazu noch körperlich schwer.
Sie wusste, wovon sie sprach. In einem Alter, in dem andere von den Früchten ihrer jahrzehntelangen Arbeit lebten, schuftete Gabriella immer noch tagein tagaus im Hotel. Nur von dem bisschen Rente konnte sie schließlich nicht leben. Die einzigen kleinen Laster, die sie sich gönnte, waren das Rauchen und das Trinken. Sie machten den Tag erträglicher und die Nacht ruhiger. Natürlich hatten Ein- bis Vier-Sterne-Gäste schon so manches Mal versucht, ihr Zimmer rauchfrei zu halten, und Gabriella zur Rede stellen wollen. Doch in diesen Fällen sprach sie ausschließlich Mallorquí, den inselweiten Dialekt des Katalanischen, und lächelte den Beschwerdeführer mit einer Herzlichkeit an, die keinen Zweifel darüber ließ, auf wessen Seite die moralische Verfehlung lag. Der Gast blickte beschämt zu Boden und beließ es bei einem kräftigen Durchlüften seines Zimmers. Dass Gabriella süchtig nach Rotwein war, bemerkten die meisten Gäste dagegen nicht, da der Geruch von Rauch und Putzmitteln alles überdeckte. Was sie allerdings mit den Putzmitteln machte, war selbst bei genauem Hinsehen nicht zu erkennen. So sehr man sich auch bemühte – selten war ein sauberes Bad oder gar ein unter dem Bett geputzter Boden vorzufinden. Wenn Gäste ihren leeren Koffer zu Beginn des Urlaubs an einen bestimmten Platz stellten und diesen fortan nicht mehr nutzten, so fanden sie in jenem Bereich am Ende des Urlaubs Unmengen an Staub und Haaren. Gabriella hatte feinsäuberlich um den Koffer herum gewischt. Schließlich hatte sie mehr als ein Zimmer zu reinigen und konnte sich nicht mit solchen Kleinigkeiten aufhalten.
Ihre Nichte Magda half ihr ab und zu, wenn das Hotel so gut belegt war, dass Gabriella es wirklich nicht mehr alleine schaffen konnte. Aber ob Nichte oder Tante, das Ergebnis war nahezu identisch. Darauf legte Gabriella großen Wert, und Magda bereitete es keine Mühe. Lediglich einmal glaubte die Tante, ihre Nichte bei einem Faux-pas überrascht zu haben. Magda mühte sich unter einem Bett ab, sie war zur Hälfte darunter verschwunden, so dass ihr Hinterteil zwischen Bettkante und Boden eingeklemmt war. Gabriella entwich ein ungläubiges, fast nur gehauchtes „Magda?“ und die Nichte robbte wieder unter dem Bett hervor. Obwohl sie nun ganz und gar verstaubt war, hielt sie voller Freude grinsend einen Ohrring empor. Es war selbstverständlich ihr eigener, für Gäste-Geschmeide bückte man sich nicht einmal. Fand man einmal einen Ring oder eine Kette auf dem Boden, so schob man das Fundstück mit dem Besen in die Mitte des Zimmers, denn dort würde es die Besitzerin schon finden. Ihren eigenen Ohrclip hatte Magda mit Schwung unter das Bett befördert, als sie sich das Staubtuch lässig über die Schulter geworfen hatte. So hatte sie sich ausnahmsweise in unbekanntes Terrain vorwagen müssen. Erleichtert hatte Tante Gabriella anschließend den Staub von Magdas Kittel geklopft und scherzend verließen beide das Zimmer – ohne den Staub wieder unter das Bett zu pusten.
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