Mit dieser Aussage erhöht sich der seelische Druck auf jeden einzelnen Jugendlichen. Diese Appelle setzen sich auch bei mir fest. „Ich will möglichst schnell älter werden, damit ich noch während des Krieges Soldat werden kann.“
Mit diesem Satz spreche ich in Gegenwart meiner Mutter meinen lang gehegten Wunsch laut aus. Ich bin, wie die meisten Jungen, endgültig von der Propaganda des Systems eingefangen Von nun an, so denke ich, können wir nur gemeinsam weiterleben. Mein so einfach dahin geplapperter Wunsch trifft meine Mutter sehr tief. Ihre Gedanken und ihre Entrüstung über mein kindliches Verlangen würgt sie sicher in diesem Augenblick hinunter. Sie spricht ihre Empörung nicht aus. Ich denke, sie schweigt vermutlich aus Angst vor mir, ich könnte ihre Betroffenheit einem meiner HJ-Führer anvertrauen.
Es ist beängstigend, es zeigt den politischen Zustand in der Gesellschaft an, wenn Eltern vor ihren Kindern Angst haben müssen. Mit dem Wunsch, schnell Soldat zu werden, melden sich sicher nur kindliche Träume. Ich erinnere mich: Gelegentlich spüre ich Zweifel am System, die sich bei mir im Wechsel zwischen einer gewissen Niedergeschlagenheit und einer künstlichen Hochstimmung zeigen. Sind es möglicherweise normale Vorgänge während der Zeit der Pubertät, die mich beeinflussen? Was ist das mit der Pubertät? Ich kenne noch nicht einmal diesen Begriff. Und darüber erfahre ich nichts. Bei politischen Schulungen kommen mir manchmal ungereimte und nebulöse Definitionen zu Ohren. Ist es der graue Schleier der Propaganda? Schnell und gekonnt räume ich alles fort, was bei mir nach einer grauen Absonderung der Propaganda aussieht. Auch dieses ist mir in Erinnerung. Die uns allgewaltige Kriegszeit lässt Augenblicke einer blitzartigen Erkenntnis von Unwiderlegbarkeit ebenso schnell wieder verschwinden. Gern möchte ich meine Fragen stellen, aber wen kann ich in meiner Umgebung ansprechen?
Ich gehe als Arbeiter in eine Munitionsfabrik
Vor den Sommerferien in 1943 melde ich mich im Arbeitsbüro der Munitionsanstalt in Grasleben. Freiwillig will ich einen Arbeitseinsatz für die kämpfenden Soldaten an den Fronten leisten. Ich bin dort sehr willkommen. Um in der Munitionsanstalt eine Arbeit aufnehmen zu können, mache ich mich ein Jahr älter. Bereits am ersten Tag der Schulferien bin ich unterwegs. Um nur nichts zu versäumen, fahre ich mit anderen Arbeitern der Munitionsfabrik, wie man sagt „bereits vor dem Aufstehen“ mit einem von vielen neuen, hellbeigefarbenen Werksbussen zur Munitionsfabrik.
In eingeschossigen, großflächigen Flachbauten befinden sich die Arbeitsräume. Eingereiht zwischen erwachsenen Frauen sitze ich und arbeitete täglich rund acht Stunden.
Wir rüsten überalterte Granatwerfermunition um. Die Stahlkörper, ausschließlich mit Sprengstoff gefüllt, werden aus dem Nebenbau angeliefert. Die Geschosse erhalten eine neue Treibpatrone. Diese wird dann seitlich mit einer Madenschraube befestigt. Zum Abschluss der Montage wird der neue Aufschlagzünder mit der Sprengkapsel auf den Stahlkörper aufgeschraubt. Gegen eindringende Feuchtigkeit werden die Aufschlagzünder mit Schellack versiegelt. Am Ende jeder Schicht verlassen etwa sechstausend 6-cm-Granatwerfer-Granaten unseren Arbeitsraum.
Die militärische Aufsicht in den einzelnen Räumen wird von Munitionsspezialisten gestellt. In unserem Arbeitsraum informieren sie uns wiederholt, dass hier eine Kiste mit kompletten Aufschlagzündern in die Luft geflogen sei. Fahrlässigkeit eines Arbeiters trage die Schuld an dem Unglück. Die Reste des Mannes mit der Schuld habe man regelrecht von den Wänden und der Decke „abkratzen“ müssen. Allein der Gedanke daran, einen Menschen von der Decke abzukratzen, erhöht ständig die Arbeitskonzentration.
Nach wenigen Tagen werde ich zur Verladung von 10,5-cm-Artilleriemunition an den Schacht und die Verladerampe abkommandiert. Aus der Tiefe des Bergwerks kommen laufend flache Loren mit Artilleriegranaten nach oben. Die schweren Loren mit ihren eisernen Rädern, für den Schienenweg ausgelegt, werden auf großflächigen Stahlblechen und anschließend auf die in die Eisenbahnwaggons reichenden Schienenstücke geschoben.
Zur Erleichterung der körperlich schweren Arbeit werden die Bodenbleche ständig mit Wasser begossen. So fällt es den Männern etwas leichter, die Loren zu bewegen. Das Wasser auf den Stahlblechen ergibt bereits nach kurzer Zeit eine dünne, rotbraune Rostbrühe. Die „Munitionskutscher“ erkennt man sofort an den Rostflecken, die sich beim Arbeiten bis hinauf in ihre Kniekehlen verteilen.
Zusammen sind wir mit zehn Mann mit der Verladung beschäftigt. In jedem Waggon stapeln die „Lorenschieber“ die Munition, entsprechend der Anweisungen, auf den Achsen in den einzelnen Waggons. Die leeren Loren werden sofort zurück zum Schacht gerollt. Sie werden kurzfristig mit neuer Munition aus der Tiefe kommen.
Mit hohem Tempo arbeiten wir. Es ist eine körperlich schwere Arbeit und als Lohn bekomme ich zwischen 60 und 95 Reichspfennige je Stunde.
Den Rest der Ferien verbringe ich zusammen mit einigen Schulkameraden in der Badeanstalt Birkerteich. Die Freizeit vergeht sehr schnell, dann beginnt schon wieder der Schulbetrieb. Nach der üblichen Begrüßung vor dem Schulgebäude durch den Direktor der Schule und dem Hissen der Hakenkreuzflagge singen wir gemeinsam mit erhobenem rechten Arm und gestreckter Hand unsere Nationalhymne und das Horst-Wessel-Lied. Der Schulalltag hat uns wieder.
Werbeversuche zum Eintritt in die Waffen-SS
Jetzt kommen die ersten Werbeversuche für den Militärdienst. Die Hitlerjugendführer wollen mich für den Eintritt als Kriegsfreiwilligen in die Waffen-SS gewinnen. Gleichaltrige Jungen fühlen sich, wie auch ich mich, von dieser Werbung mächtig angesprochen.
Auf den Plakaten sind junge, kräftige Männer in Tarnuniform zu sehen. Ihre Tarnuniformen und ihre Stahlhelme mit Tarnstoffüberzug allein sprechen besonders uns junge Männer an. Die zwei großen SS-Runen auf schwarzem Untergrund bannen auch meine Augen. Die Waffen-SS-Uniform trägt auf dem rechten schwarzen Kragenspiegel die weißen SS-Runen. Auf dem linken Kragenspiegel ist die Rangstufe festgehalten. Als einzige Waffengattung tragen sie den Hoheitsadler mit dem Hakenkreuz am linken Oberarm.
Die harte, grünschwarze Ausmalung eines Uniformträgers auf dem Werbeplakat löst bei mir gleichzeitig Beklemmung aus. Ist es eine unbekannte, unterschwellige Angst hier überrumpelt zu werden von dem Anonymen? Fühle ich mich vermutlich nur von der Uniform angezogen und hingerissen? Oder gewinnt man bei den anderen Menschen in der Volksgemeinschaft an Ansehen, wenn man diese Tarnuniform trägt? Möchte ich sie nur tragen, um damit bei den anderen Menschen anzugeben? Will ich dann etwa plötzlich etwas „Besseres“ sein? Mich hat doch die Volksgemeinschaft längst angenommen.
All diese vorgenannten Gedanken und die allgemeinen Richtlinien der Erziehung lassen sich in meinem Inneren nicht in Übereinstimmung bringen. Wir jungen Menschen sind einmal auf Gemeinsinn und auf Gleichheit ausgerichtet. Und da ist noch etwas anderes, etwas Stärkeres in mir, was mich für eine Entscheidung zur Waffen-SS unfähig macht. Dieses Etwas, ich kann es nicht beschreiben, liegt tief und fest in meiner Person verankert. Was sollen meine Eltern dazu sagen und was sollen sie von mir halten? Meinen Eltern kann ich mit der Frage, ob ich mich freiwillig zur Waffen-SS melden soll, nicht kommen. Sie überlassen mir allein die Entscheidung. Denn weder meine Mutter noch mein Vater haben politische Fragen im Privaten zugelassen. Das ist die Tatsache.
An dieser Stelle soll ich einen Einblick in meine Erziehung geben: Gab mir mein Vater einen Auftrag, den ich in meinem Alter erledigen konnte, dann war es sinnlos zu fragen: „Wann soll ich das erledigen?“ Seine Aufträge waren grundsätzlich sofort zu erfüllen. Einen Widerspruch oder eine Ausrede, dass ich erst meine Schularbeiten machen würde, wurde nicht geduldet.
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