Ich musste einen Moment überlegen: „Ja, das ist aber schon ein paar Tage her, auf dem Weg von der Zollfeste nach Kaltarra, haben wir dort eine Nacht verbracht. Mehr nicht. Warum?“
„Speerträgerin Amia! Hier wird nicht mit den Gefangenen geredet! Worum geht es hier?“
Die Soldatin nahm Haltung an: „Major Atross, in der dritten Lanze haben einige Männer erzählt, vor einigen Tagen sei ein wahrer Riese von einem Mann in dem Gasthof aufgetaucht und hätte beinahe die gleiche Geschichte erzählt. Mit ein paar Details über Zollinspektor Oribas, die der Naurim ausgelassen hat.“
„Das ist eine private Angelegenheit zwischen mir und Oribas und hat nichts mit dem Krieg zu tun“, unterbrach ich sie, damit sie nicht erzählen konnte, wie sich Jiang dem fetten Schwein hingegeben hatte, nur weil der in ihren Augen einen höheren Rang einnahm.
In ihrem Herkunftsland war es so üblich, dass ranghöhere Beamte von ihren Untergebenen alles verlangen durften, und dies dem auch nachkamen, weil sie es als ihre Pflicht ansahen. Oribas hatte das anscheinend gewusst und ausgenutzt.
Aber das waren Dinge, über die ich bestimmt nicht vor einem solchen Publikum reden würde.
Die Soldatin nickte nur: „Kommandant, seine Reaktion bestätigt, was ich gehört habe.“
„Bericht!“, bellte der Offizier unbeeindruckt.
Sie zögerte, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte. Dann blickte sie vorsichtig zu Jiang, deren Wangen eine rötliche Färbung angenommen hatten.
„Nun ja, es ist eine etwas delikate Angelegenheit. Oribas und die Mystikerin aus Shâo…“
Sie wand sich sichtlich unter den auffordernden Gesten ihres Vorgesetzten.
„Was? Komm zur Sache Mädchen!“, schnaubte einer der anderen Offiziere.
„Oribas hat die Bräuche der Shâi ausgenutzt und sie damit gezwungen, ihm sexuelle Gefälligkeiten zu erweisen“, mischte sich Anaya ein: „So, habt ihr sie jetzt genug gedemütigt? Es gibt wichtigere Dinge zu tun. Zum Beispiel Attravals Kompass vor der Armee von Morak zu schützen.“
Der Major sah wie ich und alle anderen zu Jiang hinüber, deren Gesichtszüge zu einer Maske ohne Regung erstarrt waren.
So recht schien er nicht zu wissen, was er sagen sollte.
„Es tut mir leid, dass ein einfacher Zollinspektor Euch zu einer solchen Handlung genötigt hat“, begann er schließlich: „Trotzdem! Das beweist nicht, dass eure Geschichte der Wahrheit entspricht. Aber ich kann nicht leugnen, dass der Drache uns hätte töten können. Und Ihr“, damit wandte er sich an mich: „besitzt einen Ring der Ritter von Kaltarra und mehrere Schreiben, die eure Angaben bestätigen. Mir gefällt euer Auftritt nicht, denn ihr kommt zu einer schlechten Zeit und der Drache hat außerdem drei meiner Männer getötet. Auch wenn das ein Unfall gewesen sein mag, sind sie doch tot. Ihr wollt Freunde von Kalteon sein, und seid doch für die Tode verantwortlich.“
„Meint Ihr, wir hätten Hordennarsalhakg davon abhalten können? Wir sind nicht mehr als Insekten für ihn. Nur ein alter Pakt zwischen Kalteon und dem Drachen hat ihn davon abgehalten, uns zu seiner nächsten Mahlzeit zu machen“, entgegnete Anaya hart: „Währen Eure Leute schneller gerannt, wären sie nicht gestorben. Das ist der Weg der Natur.“
Der Major starrte sie wütend an: „Nur weil ihr eine Aliana seid, heißt das nicht, dass ihr das Leben meiner Soldaten geringschätzen dürft!“
Anaya hatte nicht nur das Blut von Waldgeistern in ihren Adern, sondern war auch eine Druidin. Sie hatte grünliche Haut, ein Geweih, das aus ihren Schläfen wuchs und Hufe, statt Füße. Sie war sehr schlank und mit sieben Fuß deutlich größer, als die meisten Menschen.
„Ich bin eine Druidin des Zirkels von Zar'gan'f. Ich schätze alles Leben gleichermaßen. In der Natur überleben meistens nur die Besten, Schnellsten und Stärksten. Manchmal die mit Glück, aber immer die, die sich einer Situation am besten anpassen können. Ich kenne eure Soldaten nicht, und sie bedeuten mir nichts, aber deshalb verachte oder verurteile ich sie auch nicht“, erwiderte Anaya sichtlich verärgert.
Sichtlich deshalb, weil die Dornenranken größer geworden waren und sich gierig in Richtung der Wachen bewegten.
„Ruft die Ranken zurück oder meine Männer werden Euch töten!“
„Könnten wir uns alle beruhigen? Wir Naurim sind keine Freunde von Drachen, trotzdem habe ich mich von einem hierherbringen lassen, weil ich einen Auftrag habe – der zufällig auch eurem Land helfen wird.
Wäre mir egal, was hier passiert, hätte ich mit meinen Freunden einfach in Kaltarra bleiben können. Wir sind aber hier, um nochmals unsere Leben für ein Land zu riskieren, dass nicht unsere Heimat ist. Ihr könnt uns daran hindern, dann bleiben wir hier und ihr könnt hoffen, dass wir gelogen haben.
Wenn unser Bericht aber der Wahrheit entspricht und wir Erfolg haben, könnte der Krieg schon bald zu Ende sein, oder an anderer Stelle weitergeführt werden, weil wir Attravals Kompass weggebracht haben. Ein Objekt, dass euch weder gehört, noch für das ihr während der vergangenen Jahrhunderte eine Verwendung gefunden habt. Ihr riskiert nichts dabei, uns gehen zu lassen, aber alles, wenn ihr es nicht tut.“
Droins kurze Rede hatte es eindeutig auf den Punkt gebracht. Mir wären nur Beleidigungen eingefallen. Immerhin einige sehr kreative.
Auch der Major schien beinahe überzeugt. Er stand grübelnd vor uns, und winkte die Wachen zurück. Sie bildeten einen lockeren Ring um uns herum, während ich der Soldatin dankbar zunickte.
Ich kam mit der Hilfe von Droin und Anaya mühsam auf die Füße. Dabei nutzte Anaya ihren Körper, um das kleine Messer zu verbergen, mit dem sie die Seile durchtrennte, die mich gefesselt hielten.
„Anscheinend sind Fesseln tatsächlich nützlich, um Dein loses Mundwerk im Zaum zu halten“, fügte sie lachend hinzu. Auch Droin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ja, ja, amüsiert euch ruhig. Es wird schwer genug werden, bis zum Grab vorzustoßen. Habt ihr schon eine Idee, wie wir es durch die Reihen der Angreifer schaffen sollen? Noch dazu ohne die Hilfe von Jiang?“
Ihr Lachen erstarb, als sie meinem Blick folgten. Jiang wirkte wie eine Statur. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. – Jedenfalls dachten sie das, bis beiden auffiel, dass sie eine sehr dünne, weiße Porzellanmaske ohne Konturen angelegt hatte. Darunter war absolut nichts mehr zu erkennen.
Wir alle wussten, dass dies eine Schandmaske war. Bislang hatte sie erst einmal eine angelegt. Es hatte beinahe drei Monde gedauert, bis wir sie dazu bewegen konnten, sie abzulegen.
Großartig. Genau das, was wir jetzt gebrauchen konnten.
„Oh nein! Nicht auch das noch“, seufzte Anaya.
„Was ist denn mit ihr?“, wollte Phyria verwirrt wissen, die offensichtlich nicht verstand, was hier vor sich ging. Ich konnte es ihr nicht verübeln, hatte aber trotzdem keine Lust, es ihr zu erklären.
Zum Glück erbarmte sich Droin: „Wenn eine Shâi Schande auf sich lädt, legt sie eine Maske an, um ihr Gesicht vor der Welt zu verbergen, bis sie ihre Ehre zurückgewonnen hat.“
„Aber was ist den passiert? Wenn sie dieser Oribas dazu gezwungen hat, mit ihm zu schlafen, ist das doch nicht ihre Schuld“, entgegnete Phyria verblüfft.
„Das ist auch nicht das Problem. Aber Anaya hat den Vorfall offen angesprochen und sie damit beschämt. Deshalb hat sie die Maske angelegt.“
„Und wo ist das Problem? Soll sie doch eine Maske tragen, bis sie sich beruhigt hat.“
Sie hatte nichts verstanden.
„Das Problem ist, dass sie so lange sie die Maske trägt, mit niemandem reden wird, und so unauffällig sein wird, wie sie nur kann. Und glaub mir, das macht sie praktisch unsichtbar. Sie wird fasten, nur trockenes Brot, Reis und Obst essen und nichts anderes außer Wasser trinken. Außerdem wird sie von uns erwarten, dass wir sie darin unterstützen und bewusst so tun, als wäre sie nicht da. Wir dürfen ihr nicht helfen, sie nicht ansprechen und durch nichts zeigen, dass sie überhaupt existiert. Ist das jetzt angekommen?“, herrschte ich sie an.
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