Was genau sich dahinter verbarg, wusste niemand so genau. Alte Legenden der Naurim deuteten an, dass man mit dem Kompass alles und jeden finden konnte, egal wo sich das Objekt oder die Person verbarg.
Droin überspielte in seinem Bericht geschickt die Tatsache, dass wir sehr wohl wussten, was die Armee Moraks damit anfangen wollte. Sie versuchten die Ritualorte zu finden, an denen der Kelch von La’har mit neuer Kraft versorgt werden musste, um eine schreckliche Dämonenhorde weiter gefangen zu halten. Phyrias Orden hatte diese Aufgabe seit Jahrtausenden ausgeführt, doch in diesem Jahr hatte eine Streitmacht aus Morak die versteckte Abtei überfallen und fast alle Mitglieder getötet. Nur Phyria und wenige andere waren dabei entkommen. Seither wurde sie von den Soldaten Moraks verfolgt. Am Rand des großen Schattenwalds war sie schließlich eingeholt worden. Ohne mein zufälliges Erscheinen und Eingreifen, hätte sie nicht überlebt.
So aber wussten wir durch Phyria jetzt, worum es ging und hatten die Aufgabe übernommen, Attravals Kompass entweder zu bergen und aus Kalteon heraus zu schaffen, oder ihn vor Ort zu vernichten.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob uns das überhaupt gelingen konnte, aber Phyria hatte uns so eindringlich vor den Folgen gewarnt, sollte ihre Mission scheitern, dass ich bereit war alles zu versuchen, was in meiner Macht stand. Ich grübelte darüber nach, wie der Kompass wohl aussehen mochte, und was notwendig sein würde, um ihn zu bergen oder zu zerstören, dass ich Droins Ausführungen nicht weiter zuhörte.
„…durch Hordennarsalhakg waren wir in der Lage innerhalb weniger Kerzenlängen hierher zu gelangen. Wir können nur hoffen, dass wir nicht zu spät kommen“, schloss er gerade die Erzählung.
Die Gesichter der Offiziere hatten anfänglich noch offenes Misstrauen gezeigt, das im Laufe der Erzählung allmählich über schlichten Unglauben in nachdenkliche Mienen verwandelt.
Sie wichen ein paar Schritte zur Seite und fingen an sich leise zu beraten. Dabei wurden sie immer wieder von Meldern unterbrochen, die Nachrichten brachten oder auf Befehle warteten.
Schließlich wandte sich der Kommandant in unsere Richtung: „Wirklich eine tolle Geschichte. Hat es lange gedauert, sich das Ganze auszudenken?“, fragte er in sarkastischem Tonfall.
„Nein, eigentlich war es ganz einfach“, gab ich in der gleichen Tonlage zurück: „Und das nächste Mal, wenn ich von einem drohenden Krieg gegen Kalteon erfahre, werde ich einfach ein Bier bestellen und die Ereignisse genießen“, fügte ich ätzend hinzu.
„Soll das heißen, ihr wünscht unserem Land Schlechtes?“, fragte der Offizier drohend.
Als ich den Mund öffnete, um ihn mit einer weiteren, herzlichen Bemerkung zu beglücken, fuhr Jiang dazwischen: „Natürlich nicht. Aber eure Manieren im Umgang mit euren Freunden und Verbündeten sind mangelhaft. Ihr seid ein unverschämter Rüpel und solltet uns dankbar sein, aber scheinbar gilt Gastfreundschaft in eurem Land nichts. Wir werden gehen. Phyria, Anaya, die Fesseln.“
Der Offizier öffnete ein paar Mal den Mund, ohne dass er einen Ton herausbrachte.
Phyria schüttelte sich unterdessen, dann nahm ich den Geruch von verbrannter Wolle war. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie sich von ihren Fesseln befreit. Verbrannte Reste der Seile fielen um sie herum zu Boden. Ihre Hände glühten und Flammen züngelten über ihre Fingerspitzen.
Anaya tat irgendetwas mit den Seilen und in Windeseile wuchsen kleine Blätter daraus, es bildeten sich Knospen und schließlich Blüten. Dann vertrockneten sie und fielen als tote Pflanzenfasern zu Boden.
„Haltet sie auf!“, brachte einer der Offiziere hervor.
Doch bevor einer der Soldaten reagierte, hatte Jiang irgendwie die Knoten gelöst und aus ihrem Gewand zwei gut verborgene Pinsel gezogen, deren Haare in grünlichem Ton vor arkaner Macht leuchteten. Mit einem deutete sie anklagend auf den völlig verblüfften Kommandanten, mit dem anderen auf Droins Fesseln. Die Seile wanden sich wie lebendige Wesen und wickelten sich von alleine auf.
Ich hatte den Trick schon einige Male gesehen, aber wie sie zuerst an die Pinsel gekommen war, konnte ich mir nicht erklären. Die Fesseln waren nicht die besten, aber zu sicher, um sich in so kurzer Zeit unbemerkt daraus zu befreien.
Die Soldaten drangen auf uns ein, beschränkten sich aber darauf, mit ihren Speeren nach uns zu stechen. Gefesselt hatte ich einige Mühe, den Stichen auszuweichen. Auch ein unerfahrener Soldat würde wenig Mühe mit mir haben, also hüpfte ich vorsichtig rückwärts auf die anderen zu.
Zum Glück zögerten sie, ihre Waffen ernsthaft zu benutzen, da sie soeben Zeugen davon geworden waren, wie wir uns von den Fesseln befreit hatten. Zumindest…
„Hey, könnte mich mal jemand losbinden?“, schimpfte ich, während ich rückwärts stolperte und schmerzhaft auf dem Hintern landete.
„Ach, ich finde, Dir stehen die Seile“, bemerkte Anaya trocken. Dabei bewegte sie ihre Hände sanft hin und her, als würde sie ein Baby schaukeln. Erst konnte ich nicht sehen, warum sie das tat, aber dann fielen mir die kleinen Dornenranken auf, die sich soeben aus dem matschigen Schnee räkelten, wie die Schlange bei einem Schlangenbeschwörer.
Droin marschierte zu einem der Soldaten, die wie hypnotisiert auf die Ranken starrten, und riss ihm den Speer aus den Händen, mit dem er uns bedroht hatte.
Phyria hob einfach nur ihre Hände und lies die Flammen darin tanzen.
Das Ganze hatte so sehr etwas von einem Zirkus an sich, so dass ich anfangen musste, zu lachen.
„Ich kann hier nichts Komisches finden“, schalt mich Jiang: „Wir haben zu tun. Hör auf faul herum zu liegen und steh wieder auf. Du kannst Dich ja wohl selbst von den Fesseln befreien.“
Konnte ich vermutlich, aber das würde ich nur dann tun, wenn ich darauf angewiesen war. Ich hatte den Eindruck, dämonische Kräfte zu benutzen, würde mir hier nicht unbedingt Sympathien einbringen. Also zwang ich mich, darauf zu vertrauen, dass Jiang die Situation unter Kontrolle bringen konnte. Mit ihrem autoritären Tonfall gelang es ihr oft, gefährliche Momente zu entschärfen. Auch ich ertappte mich nach der langen Zeit noch immer dabei, ihr erst einmal zuzuhören.
Auch hier hatte ihre Art zunächst den gewünschten Erfolg.
„Kommandant. Ihr seht, wir hätten euch töten können, wenn wir gewollt hätten. Wir sind mit einem Drachen angekommen. Meint ihr nicht, wenn es in unserer Absicht gelegen hätte, hätten wir Hordennarsalhakg darum bitten können, all eure Leute zu Asche zu verbrennen, wie er es gerade mit einem Teil der angreifenden Armee getan hat?“
Dabei sah sie zunächst noch den Offizier an, bevor sie sich bei den letzten Worten direkt an mich wandte.
Ich hatte den Eindruck, sie vermutete, dass ich etwas damit zu tun hatte, womit sie ja auch richtiglag, allerdings würde ich das nicht zugeben. Der Handel mit dem Drachen war nicht unbedingt klug, aber praktisch. Ich vermutete, dass unser Weg zu Attravals Grab einigermaßen frei sein würde, zumindest wenn wir schnell waren. Ich bezweifelte jedoch, dass wir hier so bald aufbrechen konnten. Bislang hatten nur unsere Wachen und die Offiziere bemerkt, dass wir unsere Fesseln abgestreift hatten. Doch ich vermutete, dass das nicht lange so bleiben würde. Die Soldaten um uns herum hatten ihre Aufmerksamkeit den Angreifern zugewandt, doch wenn sich auch nur einer umdrehen würde, wären wir im Handumdrehen wieder vollständig umzingelt.
Während ich mich umsah, fiel mein Blick auf eine der Wachen, die mich kritisch betrachtete. Sie hielt ihren Kopf schräg, so als überlege sie, ob sie mich zuvor bereits irgendwo gesehen hatte.
„Ja?“, fragte ich sie direkt.
Sie reagierte überrascht und zögerte einen Moment: „Wart ihr jemals im Gasthaus „Zum steinernen Baum“ und habt dort einen Soldaten namens Nordin getroffen?“
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