„Dazu haben wir keine Informationen. Für uns arbeiten sie nicht!“
„Wann hat sie segeln gelernt?“
„Wahrscheinlich schon als Kind. Sie ist in der griechischen Inselwelt aufgewachsen.“
„Warum ist sie Mitglied einer Crew“, warf der Mexikaner ein, „obwohl sie ein eigenes Schiff besitzt? Schon merkwürdig.“
„Gute Frage, auf die wir auch keine Antwort haben.“
„Was wissen wir noch?“ sagte Killoren, um die Diskussion voranzutreiben.
„Am meisten wissen wir über eine Nora Ronit Dahl. Sie stammt aus Israel. Nach dem zweiten Jom-Kippur-Krieg wanderten ihre Eltern nach Südafrika aus. Ihre Tochter schickten sie in ein Internat nach England. Ihre Berufslaufbahn begann sie bei der Polizei in London, wo sie Täterprofile sowie Gutachten über die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit von Strafgefangenen erstellte. Dank einer außergewöhnlichen Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, Gesichtszüge zu lesen und feinste Veränderungen wie die unwillkürliche Erweiterung der Pupille oder die Veränderung der Blickrichtung wahrzunehmen, erkannte sie sofort, ob ein Lächeln echt oder falsch war, ob eine befragte Person bei einer Antwort log oder etwas zu verbergen hatte. Bei einigen spektakulären Verbrechen hatte sie detaillierte Verhaltensprofile erstellt und die Wahrscheinlichkeiten der zu erwartenden Handlungen von Tätern zutreffend eingeschätzt. Später machte sie in der Soca, der Serious Organized Crime Agency, Karriere, bis es zu einem Zwischenfall kam und sie den Dienst quittierte.“
Fragende Gesichter.
„Nun, wir haben hier in unserer Runde einen Kollegen aus England, Steve Colrev, und wir wollen seine Gefühle nicht verletzen. Es handelte sich um den Ausbruch des F17G3-Virus. Bei der Untersuchung stieß Dahl auf Spuren, die die Regierung nicht aufgedeckt haben wollte. Steve, möchten Sie etwas dazu sagen?“
„Es gibt eine offizielle Stellungnahme des Innenministers dazu. Bitte verlangen Sie nicht von mir, dass ich eine abweichende Meinung äußere.“
„Eins ist sicher, Frau Dahl liebt den Premierminister nicht. In einem Interview sagte sie, Teimur Huxley steuere England in die Diktatur. Weitere Details über Dahl finden Sie im Ordner Amiramis im Speicher T.“
„Sicher ist aber auch“, fügte Colrev hinzu, „dass sie den Großraum London aus dem Effeff kennt.“
„Jetzt zur vierten Frau auf dem Schiff. Sie ist das größte Rätsel. Hier ist ein Foto.“ Auf dem Schirm erschien das Gesicht einer jungen Frau mit kurzen blonden Haaren. „Vor sechs Jahren tauchte eine Sonja Miller aus dem Nichts in Portugal auf. Wie bei Bodishia wissen wir nicht, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, wir haben auch keine Informationen über die Art ihrer Ausbildung und über ihre Eltern. Sie meldete sich mit einem australischen Pass bei einem Golfturnier im Süden Portugals an, überraschte schon im ersten Durchgang mit langen Drives von über zweihundertfünfzig Metern, spielte jedes Loch unter Par und gewann die vier Runden mit zweihundertachtundzwanzig Schlägen. Das waren neunzehn Schläge unter dem Platzrekord. Als sie den Scheck für den Sieg erhalten hatte, fuhr sie sofort mit unbekanntem Ziel weg. In dem Jahr hat sie vier weitere Turniere gespielt, jedes gewonnen und jedes Mal die Zahl ihrer Schläge reduziert. Das fünfte Turnier gewann sie mit vierundfünfzig Schlägen pro Durchgang. So etwas hat es noch nie gegeben. Das Besondere bei diesem Turnier war dabei das Wetter. Es regnete in Strömen, und ein peitschender Wind wechselte böenartig seine Richtungen. Ich spiele auch ein wenig Golf und weiß, dass jeder Golfer dieses Wetter hasst, weil der Wind einen aus dem Rhythmus bringt. Diese Frau dagegen scheint das Wetter erst in Hochform gebracht zu haben. Ganz ungewöhnlich! Nach jedem Turnier reiste sie ab, sobald sie den Scheck kassiert hatte. Nach dem fünften Turnier und einem Preisgeld von über fünf Millionen Geldeinheiten in Neuen Euro verschwand sie über zwei Jahre vollständig von der Bildfläche und geriet erst durch einen Zufall in die Akten der Polizei. Ohne diesen Zufall wären wir nie auf sie aufmerksam geworden. Bei einem Überfall auf eine Bank in Annemasse …“
„Annemasse bei Genf?“
„Richtig. Bei dem Banküberfall war sie eine der Kunden in der Schalterhalle. Vier bewaffnete Bankräuber hatten die Halle gestürmt und die Menschen aufgefordert, sich auf den Boden zu legen. Und jetzt kommt das Merkwürdige. Die Einzelbildaufzeichnung der Videoüberwachung zeigt, dass Miller sich nicht auf den Boden legte, sondern stehenblieb. Während zwei der Gangster die Menge in Schach halten, richten die beiden anderen ihre Maschinenpistolen auf Miller. In einem Bild ist zu erkennen, dass sie zu den Männern spricht. Einer scheint danach geschossen zu haben. Im nächsten Bild ist die Frau nicht mehr zu sehen, sie ist verschwunden. Sie liegt aber nicht verletzt oder tot am Boden, stattdessen liegen die Bankräuber auf dem Boden, als seien sie niedergeschlagen worden. Als die Polizei eintraf, hatten Bankangestellte und mutige Kunden alle vier Gangster überwältigt.“
„Alle vier? Wie hat sie das erklärt?“
„Sie hat nichts erklärt. Sie blieb verschwunden und muss die Bank verlassen haben, bevor die Polizei eintraf.“
„Was hat die Spurensicherung erbracht? Wie wurden die Männer ausgeschaltet?“
„Der Mann, der mit der Waffe auf Miller geschossen hatte, und der Mann an der Tür hatten Verletzungen am Hals, sie müssen mit Schlägen gegen die Halsschlagader niedergestreckt worden sein. Die beiden anderen Gangster wiesen Schussverletzungen auf, die Schüsse stammten aus einer der Maschinenpistolen, vermutlich der, die auf Miller gerichtet war.“
„Wie soll das gehen? Wie kann eine Frau vier bewaffnete Männer in Bruchteilen von Sekunden entwaffnen und niederschlagen oder erschießen?“
„Wir haben keine Erklärung, auch die Bankräuber erinnerten sich an nichts.“
„Ist es möglich, dass jemand später die Videoaufzeichungen manipuliert und die Sequenz gekürzt hat?“
„Diese Vermutung ist naheliegend und wurde überprüft. Schnitte konnten aber nicht entdeckt werden.“
„Ist es nicht merkwürdig, dass eine junge Frau, die offensichtlich eine außergewöhnliche Begabung fürs Golfspielen besitzt, diese Begabung nicht nutzt und stattdessen in einer französischen Provinzbank auftaucht?“ fragte der Mexikaner.
„Alles an ihr ist merkwürdig.“
„Warum hat sie mit Golfspielen nach einem Jahr aufgehört?“
„Vielleicht wollte sie keine Aufmerksamkeit mehr erregen, vielleicht war sie auf der Flucht, vielleicht musste sie sich verstecken.“
„Vergleichen Sie die Fotos. Das erste wurde bei einem der Golfturniere gemacht, das zweite ist eine Aufnahme aus der Bank, das dritte ist das jüngste und wurde in Manila geschossen. Sie können sehen, dass sie versucht hat, ihr Aussehen zu verändern. Bei dem Golfturnier hatte sie lange dunkelblonde Haare. In der Bank dagegen waren ihre Haare kurz und blond. Auf dem Foto aus Manila hat sie sie wieder wachsen lassen und dunkler gefärbt. Mit der Sonnenbrille ist sie kaum wiederzuerkennen.“
„Wurde sie von den Schüssen verletzt?“
„Nein, die Geschosshülsen hat man in einer Wand gefunden.“
„Warum war sie in der Bank in Annemasse? Hat sie dort ein Konto?“
„Eine Transaktion hat sie nicht getätigt. Die Bankmitarbeiter wurden befragt, keiner hat mir ihr gesprochen. Sie stand noch in der Warteschlange, als die Bankräuber die Halle betraten. Ein Konto hat sie dort nicht. Zumindest nicht unter dem Namen Sonja Miller.“
„Diese Frau befindet sich jetzt auf der Jacht Amiramis?“
„Ganz sicher sind wir nicht. Wir haben Fotos der Frauen auf der Jacht in unser Suchprogramm eingegeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der Frau mit Sonnenbrille aus dem Hafen in Manila um die Frau in Annemasse und um die Golfspielerin handelt, ist allerdings außerordentlich hoch, sie liegt bei 0,98.“
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