„Sie machen mich neugierig“, warf einer der Zuhörer ein, der Tojo Higuchi hieß und aus Osaka stammte, „wie weit ist die Jacht gekommen? Vierhundert Kilometer? Wo haben Sie sie gefunden?“
„Wir haben sie nicht gefunden. Sie war verschwunden. Sie hat sich wie Kaimoa Shahade der Überwachung entzogen, in Luft aufgelöst.“
Nachdem die Zuhörer ihre Ungläubigkeit, Verwunderung und Einwendungen vorgebracht hatten, fuhr Radjabow fort: „Wir waren genauso ungläubig und perplex, haben die Maße des Schiffes ausgemessen, die Daten in ein Suchprogramm eingegeben und trotzdem nichts gefunden. Daraufhin haben wir alle verfügbaren Satellitenaufnahmen der vorausgegangen Tage durchkämmt, um wenigstens die Route und den Ausgangshafen der Jacht zu finden. Mit der Methode sind wir glücklicherweise fündig geworden, die Jacht ist die Kurilen entlanggesegelt und kam aus dem Hafen von Hakodate, wo sie mehrere Tage gelegen hatte. Die Daten der Hafenaufsicht haben uns schließlich weitergebracht. Die Jacht heißt Amiramis, fährt unter der Flagge Singapurs und gehört einer Frau. Bevor ich mich jetzt weiter mit dieser Frau beschäftige, möchte ich Ihnen einige Satellitenaufnahmen zeigen, die vor fünf Tagen gemacht worden sind.“
Er drückte auf die Sensorplatte, zeigte nacheinander sechs Aufnahmen und kehrte dann zur ersten zurück: „Auf dem Foto sieht man zwei Schiffe, die Jacht ist die Amiramis, das andere Schiff, das neben der Segeljacht liegt, ein bewaffnetes Tragflächenboot der ISF. Deutlich ist zu erkennen, dass sich Polizei- oder Zollbeamte an Deck der Jacht befinden.“
Er klickte weiter: „Auf dem zweiten Foto sieht man, dass die Jacht abgeschleppt wird. Warum das Polizeischiff die Jacht in Schlepp genommen hat, braucht uns zunächst nicht zu interessieren. Achten Sie vielmehr auf die eingeblendete Zeit: Dieses Foto wurde um 12.14 Ortszeit gespeichert. Das dritte Foto wurde zehn Minuten später aufgenommen. Sie können erkennen, dass sich der Abstand zwischen dem Polizeischiff und der Amiramis verändert hat, er ist größer geworden. Wie war das möglich? Jemand muss in der Zwischenzeit die Leine gekappt haben. Auf dem vierten Bild, das um 12.26 gespeichert wurde, sieht man eine Explosion auf dem Polizeischiff. Auf dem fünften Bild ist der „Stolz des Islam“ am Sinken, das Segelschiff hat die Richtung geändert und bereits das Vorsegel gehisst. Auf Deck sind zwei Personen auszumachen. Das sechste Bild schließlich zeigt nur noch ein Schiff: die Jacht Amiramis unter vollen Segeln. Die Fragen, die sich mir stellen, sind offensichtlich: Wie ist es der Besatzung des Segelschiffs gelungen, das Schlepptau zu kappen, und wie ist es zu der Explosion auf dem Tragflächenboot gekommen? Hat jemand von Ihnen dazu eine Idee oder eine Meinung?“
„Was wissen wir über das Schiff? Haben wir andere Fotos von der Amiramis? Fotos, die sie in einem Hafenbecken zeigen; Fotos, auf denen man die Aufbauten sehen?“ fragte einer.
„Hat irgend jemand das Schiff in Wirklichkeit gesehen?“ warf ein anderer Mann ein.
„Was wissen wir über die Mannschaft? Wo ist das Schiff jetzt?“ fragte eine Frau.
„Was sieht man auf dem ersten Foto neben dem Schiff im Wasser?“ fragte Miliano Alvares, ein Mann mit mexikanischen Gesichtszügen.
„Die beiden Punkte? Sind Fische, Tümmler wahrscheinlich.“
„So kommen wir nicht weiter“, fuhr eine Frau gebieterisch dazwischen, „ihr gackert wie Hühner auf einem Hühnerhof oder wie Anfänger auf der Polizeischule. Ich verstehe auch Levon nicht, dass er diese wirre Diskussion nicht besser steuert.“
Betroffen hielten die anderen inne und wandten ihren Blick der Frau zu, die sie zurechtgestaucht hatte. Sie trug kurzgeschnittene dunkelblonde Haare, war Mitte Dreißig, sprach mit amerikanischem Akzent und hieß Kelly Killoren.
„Die Explosion kann zufällig ausgelöst worden sein. Aber so wie ich Levon seit langem kenne, vermutet er wahrscheinlich, dass die Besatzung der Jacht dafür verantwortlich war. Nicht wahr?“
Radjabow nickte.
„So wie ich Levon kenne“, fuhr sie fort, „hat er uns aber auch nicht alle Informationen gegeben, über die er verfügt. Er spielt gerne Gottvater, der die Fäden in der Hand hält und die Lösung kennt. Bevor wir weiter spekulieren, sollte er uns sagen, was er weiß.“
Der Redner ließ sich zu einem kurzen giftigen Blick verleiten, den Kelly mit einem Kussmund erwiderte: „Nun sag schon, was du noch hast.“
„Wir haben den Funkverkehr abgehört. Nach einer Meldung des Anführers an die Küstenstation wurden sechs Frauen festgenommen und gefesselt, fünf von ihnen unter Deck gebracht und eingeschlossen. Die sechste wurde in die Steuerkabine geführt, um dem als Steuermann abgestellten Zollbeamten Informationen über das Schiffssystem zu geben. Während der Fahrt war der Steuermann in ständigem Kontakt mit dem Polizeischiff und hat nichts Auffälliges berichtet. Es ist daher völlig rätselhaft, wie und von wem das Tau gekappt wurde und wie es zur Explosion des Tragflächenboots kam.“
„Gibt ein Foto von … 12.25?“ fragte Alvares, „ich habe da eine Idee.“
„Ja, ich glaube … einen Augenblick … da ist es.“
„Bitte vergrößern … sehen Sie die Verfärbung des Wassers vor der Jacht? – Das ist die Spur eines Torpedos!“
„Welche Segeljacht verfügt über Torpedos?“ warf eine Frau ein.
„Offensichtlich die Amiramis.“
„Hat jemand die Explosion des Polizeischiffs überlebt? Hat er eine Aussage gemacht?“ setzte der Japaner nach.
„Kein Besatzungsmitglied wurde aus dem Wasser gefischt. Das Meer wimmelt von Haien.“
„Was geschah mit dem Mann, der das Steuer der Jacht bediente?“
„Wissen wir auch nicht.“
„Hat man nach dem Wrack getaucht, um die Art der Zerstörung festzustellen?“
„Dafür fehlt der Marine der ISF die Ausrüstung.“
„Wir scheinen ja wirklich verdammt wenig über den Vorgang zu wissen“, bemerkte Killoren und fuhr dann fort, „welche Schlussfolgerungen ziehen wir aus dem Bild, auf dem das Torpedo zu sehen ist?“
„Es gibt für mich nur eine: Das Schiff wurde nicht gründlich durchsucht. Im Vorschiff muss es eine Kammer geben, in der sich eine weitere Person versteckt hatte und die den Abschuss durchführte.“
„Die Frauen könnten sich aber auch selbst befreit haben.“
„Benutzt die Polizei der ISF keine elektronischen Handschellen mit Sprengkapseln?“ fragte Higuchi.
„Die Ausrüstung der Zoll- und Küstenschutzschiffe ist nicht auf dem neuesten Stand. Der Zoll verfügt unseres Wissens nur über altertümliche Handschellen mit mechanischen Schlössern.“
„Wo ist das Schiff jetzt?“ wiederholte eine Frau ihre schon einmal gestellte Frage.
„Das wissen wir nicht. Seit dem Überfall hat es keine GPS-Anfrage der Jacht mehr gegeben.“
„Ich glaube, es wird Zeit“, mischte sich Kelly wieder ein und wandte sich an Radjabow, „dass du uns etwas über die Schiffseignerin und die Mannschaft erzählst.“
Radjabow nickte: „Seit dem Vorfall am Kap Lopatka sammle ich Material über das Schiff, die Eignerin und die Mannschaft. Dabei bin ich auf zahlreiche Merkwürdigkeiten gestoßen. In den Unterlagen aus Hakodate war eine Frau als Schiffseignerin angegeben, die sich bei den Hafen- und Zollbehörden als Bodishia Prasutag ausgewiesen hatte. Leider wissen wir fast nichts von ihr – was auch meine Schuld ist. Da ihr Familienname indischen Ursprungs zu sein schien, konzentrierten wir uns auf den asiatischen Raum. Nachdem die erste Recherche aber nichts ans Tageslicht förderte, habe ich die Angelegenheit nicht weiterverfolgt. Andere Projekte hatten Priorität, bis sich ein aufmerksamer Datenauswerter bei mir meldete und berichtete, bei einer Routinesichtung von Schiffsdaten in einem asiatischen Hafen sei ihm ein Schiff aufgefallen, nach dem ich einmal gesucht hätte. So fanden wir die Amiramis acht oder neun Monate nach dem Vorfall am Kap Lopatka wieder, und ich beauftragte sogleich einen freien Mitarbeiter, Fotos von der Besatzung zu schießen. Dabei stellten wir fest, dass die Besatzung ausschließlich aus Frauen bestand. Mit Hilfe der Fotos bekamen wir heraus, dass der Pass von Prasutag auf Malta ausgestellt worden ist. Außerdem deuten die Fotos, die von ihr vorliegen, darauf hin, dass sie ethnisch aus Irland oder Wales zu stammen scheint, auf keinen Fall aus Indien. Sie ist leicht rothaarig und hat eine helle Haut mit Sommersprossen. Allerdings haben wir keine irischen oder englischen Familien Prasutag gefunden. Vielleicht ist Prasutag der Name ihres Mannes, über dessen Existenz wir allerdings nichts wissen.“
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