Raschid, der eine sehr helle Haut hatte, wurde rot und schüttelte den Kopf.
„Die Atheisten“, fuhr der Anführer ohne merkliche Unterbrechung fort, um ihm die Verlegenheit zu nehmen, „wollen Gott durch die Vernunft ersetzen. Woher haben wir Vernunft? Sie kommt nicht aus dem Nichts. Sie kommt von Gott, und es ist unerheblich, ob wir sie als sein Geschenk oder seinen Willen ansehen …“
Inzwischen hatte die Kabine den Scheitelpunkt des Riesenrades erreicht. Als Amr Ali Khaled bemerkte, dass sie sich abwärts zu bewegen begann, unterbrach er seine an Zargawi gerichtete Rede, wandte sich wieder der gesamten Gruppe zu, deutete auf die Stadt und sagte: „In einem Jahr werden wir große und mächtige Zeichen setzen. Wir wollen in New York, in London und in Peking zuschlagen. Während wir hier beisammen sind, hat Abu Laban eine Gruppe heiliger Krieger in New York versammelt, und eine dritte Gruppe unter der Führung des Imams Habib Guimba hat sich bereits in Peking getroffen. Der Imam hat ein ehrgeiziges Ziel, er möchte mindestens zwei der drei siebenhundert Meter hohen Türme zerstören. Welches Objekt wir uns in London zum Ziel nehmen werden, wissen wir noch nicht. Deswegen haben wir uns heute hier getroffen. Wir sind acht Mudschaheddin. Ich habe nach Vorarbeiten acht Gebäude ausgewählt. Jeder von euch erhält die Aufgabe, eines der Ziele genau zu erkunden und einen Plan auszuarbeiten, wie es zerstört werden kann.“
Er nahm kleine Zettel aus einer Jackentasche und verteilte sie: „Abu, dein Gebäude ist der Helter-Skelter-Turm, Feisal, du nimmst die Glasscherbe, Tarec, kümmere dich um den alten Postturm …“
Er wurde von Abu Bakr unterbrochen: „Kann ich nicht die Bildergalerie als Ziel bekommen? Ich habe die Schriften des Verhüllten Propheten gelesen. Er hasste die Spiegel und die Bilder. Ich will die schamlosen Bilder vernichten.“
Mit zorniger Stimme wurde er von Amr Ali Khaled zurechtgewiesen: „Abu, auch wenn ich für deinen Wunsch, die Bilder zu zerstören, großes Verständnis habe, so betrübt mich doch dein Verhalten sehr. In der Nationalgalerie sind mindestens hundert Videokameras installiert, jeder Winkel wird Tag und Nacht überwacht. Außerdem weißt du sehr wohl, dass die Schriften von Al Moquanna, dem Verhüllten Propheten, als abscheuliche Ketzereien gelten und widerlegt wurden. Folge der rechten Lehre und versenke dich in den Koran. Vergiss die Nationalgalerie; sie stellt kein Ziel dar, das unserer Sache würdig wäre.“
Dann fuhr er fort, die Zettel zu verteilen. Als er den letzten Hassan Khan, der sich Harry genannt hatte, überreichte, sagte der: „Wie schade, dass es keine asbestverseuchten Gebäude mehr gibt. Wisst ihr eigentlich, dass durch den Asbest der Zwillingstürme mehr Amerikaner ums Leben kamen als durch den Einsturz der Gebäude?“
Mit erstaunten und fragenden Gesichtern blickten die anderen ihn an. Die meisten wussten nicht einmal, was Asbest war.
„Die Türme“, erklärte Hassan, „waren im Innern mit Asbestplatten verkleidet. Nach der Zerstörung wurde der asbesthaltige Schutt weggeschafft und im Umland von New York auf Müllhalden gekippt, aber nicht abgedeckt. Die Amerikaner waren schon immer dumm und gedankenlos. So trug der Wind den Asbeststaub weiter ins Land, und in den folgenden Jahren erkrankten viele Menschen, die den Staub einatmeten, an einer tödlichen Staublungenkrankheit. Nach glaubwürdigen Schätzungen starben über fünfzehntausend Menschen an dieser Krankheit oder an Lungenkrebs.“
Da die anderen wussten, dass Hassan viel Zeit im Internet mit Nachforschungen verbrachte, bezweifelte keiner seine Behauptung. Stattdessen pries Feisal Allah und dankte ihm für die zusätzlichen Toten. Als Imad weitere Fragen zum Asbest stellte, riss Amr Ali Khaled das Wort wieder an sich, bestätigte Hassans Geschichte und wies bedauernd darauf hin, dass der alte Postturm schon vor vielen Jahren saniert worden sei. Schließlich kam er auf die Zettel zurück und sagte: „Prüft die Gebäude und ihre Schwächen, die Zugänge, die Bewachungs- und Sicherheitseinrichtungen. Wir können normalen Sprengstoff verwenden, Giftgas einsetzen oder einen Virenanschlag ins Auge fassen. Vielleicht steht uns sogar eine Atombombe zur Verfügung. In dem Fall brauchen wir ein möglichst hohes Gebäude, damit sich die Druckwelle ungehindert in alle Richtungen ausbreiten kann. Forscht und prüft! In zwei Monaten treffen wir uns wieder. Wenn die Engländer sich an den Tag von Guy Fawkes erinnern, wollen wir Allah bitten, dass er uns erleuchtet und den Weg zeigt.“
„Wie können wir eine Bombe verstecken“, fragte Imad Lahoud, „wenn die Gebäude sorgfältig bewacht werden?“
„Mit Allahs Hilfe, mit Geduld und List. Ich habe viel gelernt aus dem Buch Attentäter und Attentatsversuche . Ich empfehle es euch zur Lektüre, obwohl es von einer Ungläubigen geschrieben wurde. Darin wird zum Beispiel der Attentatsversuch eines unauffälligen Mannes namens Johann Georg Elser beschrieben. Vor einhundertsechzig Jahren lebte im mittleren Europa ein Anführer, der Adolf Hitler hieß. Ein einzelner Mann hätte ihn fast zur Strecke gebracht. Er kannte seine Gewohnheiten und nahm eine Stelle im Bürgerbräukeller, einem Gasthaus in der Stadt München, an. Er wusste, dass Hitler einmal im Jahr an einem bestimmten Tag in einem großen Saal des Gasthauses eine Rede hielt, eine Gedenkrede, bei der auch zahlreiche andere wichtige Personen anwesend waren. Deshalb ließ der Mann sich nach seiner täglichen Arbeit dort einschließen und baute in monatelanger Arbeit eine Bombe mit Zeitzünder in eine Säule ein. Das ist eine gute Vorgehensweise. Wenn wir ein Gebäude ausgewählt haben, wird sich einer von uns als Reinigungs- oder Wachmann anstellen lassen. Ich glaube“, er wandte sich Zargawi Rashid zu, „du bist am besten dafür geeignet. Mit deinem Gesicht und einem anderen Pass kannst du als Südeuropäer durchgehen, kein Mensch vermutet in dir einen treuen Diener Allahs.“
„Ich danke dir, dass du mich ausgewählt hast“, entgegnete Rashid, „denn ich habe mir den Imam Najmuddin Gotsinskii zum Vorbild genommen, der vor fast zweihundert Jahren in Dagestan gegen die russischen Kommunisten kämpfte. Er schrieb den wunderbaren Satz nieder: Ich knüpfe einen Strick, um damit alle aufzuhängen, die von links nach rechts schreiben.“
Diese hitzigen Worte gefielen Tarec al Suweidan, der zu den Besonnensten der Gruppe gehörte, nicht besonders und er sagte tadelnd: „Rashid, deine Unbeherrschtheit ist eine große Gefahr. Übe dich in Geduld und Zurückhaltung. Versenke dich in Allah und bete regelmäßig die Lieblingssuren des Propheten. Unbeherrschtheit führt oft vom Weg ab und leitet in die Irre. Folge den Anweisungen, die dir gegeben werden.“
Als Rashid widersprach, musste Amr Ali Khaled eingreifen und den Streit schlichten. Zum Schluss sagte er: „In zwei Monaten treffen wir uns wieder, gleichgültig, ob es stürmt, hagelt oder blitzt. Habt keine Furcht! Wir alle haben schon zahlreiche lebensgefährliche Aufträge für unser Ziel erfolgreich durchgeführt, weil Allah uns geleitet und geschützt hat. Es ist unsere Aufgabe, den Kreuzzug der Ungläubigen gegen den Islam mit unserem Blut und unseren Körpern zu beenden. Wir sind alle Mudschaheddin, heilige Krieger.“
Bevor die Kabine zum Stillstand kam, umarmten und küssten sie sich; dann gingen sie auseinander – die einen zum Waterloo-Bahnhof, die anderen zur U-Bahn-Station Westminster. Amr Ali Khaled dagegen wanderte den Fluss entlang und dachte dabei über den Verlauf des Treffens nach. Er war sehr unzufrieden, die teilweise unbedachten und hitzigen Reden bereiteten ihm große Sorgen. Einige Personen, deren Zuverlässigkeit er in Zweifel zog, würde er austauschen müssen. Was für ein Glück, dass keiner von ihnen seine Adresse kannte und auch nicht wusste, welchen Beruf er tagsüber ausübte! Mittlerweile hatte er den Platz vor der Tate Modern erreicht. Dort setzte er sich auf eine Bank und betrachtete die große Kuppel der Kathedrale auf der anderen Seite des Flusses. Wie schön wäre es, dachte er, wenn es gelänge, in der Laterne der Kuppel eine Bombe zu verstecken. Eine Explosion der Kuppel von Saint-Paul’s wäre noch wirkungsvoller, als es die Zerstörung der Kathedrale von Saint-Denis in Paris vor zehn Jahren war. Aber er wusste, dass sich diese Idee nicht würde verwirklichen lassen. Trotzdem gab er sich seinen Träumereien hin, bis ihn eine Stimme aufschreckte. Es war eine alte Dame, die fragte, ob der Platz neben ihm noch frei sei.
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