Hier mußte Ilse mitten im Lesen innehalten und eine Pause machen. Der Gedanke an die Heimat und die Sehnsucht dahin überwältigten sie dermaßen, daß sie weinen mußte. Erst als ihre Tränen wieder getrocknet waren, las sie zu Ende.
»Grüße nur alle, du einziger Herzenspapa, auch die Mama; das Tagebuch, das sie mir mit eingepackt hat, kann ich nicht gebrauchen, ich habe keine Zeit, etwas hineinzuschreiben. Aber ich bedanke mich dafür. Nun leb’ wohl, mein lieber, süßer, furchtbar netter Papa. Ich küsse Dich hunderttausendmal. Bitte, gib auch Bob einen Kuß und grüße Johann von
Deiner
Dich unbeschreiblich liebenden Tochter
Ilse.
P. S. Ich will gern Zeichenunterricht nehmen bei dem Herrn Professor Schneider, ich darf doch? Morgen fange ich an.
P. S. Beinah hätte ich vergessen, Dir zu schreiben, daß Du mir doch eine Kiste mit Kuchen und Wurst schickst. Nellie ist immer so hungrig, wenn wir des Abends im Bette liegen und ich auch.
P. S. Lieber Papa, ich kriege immer so viel Schelte, daß ich so ungeschickt esse, schreibe mir doch, ob das nicht sehr unrecht ist. Der Mama sage nichts hiervon. Deine Hand drauf! – Fräulein Güssow habe ich sehr lieb.« –
Gerade saßen Ilses Eltern mit dem Prediger zusammen auf der Veranda am Kaffeetische, als ihr langer Brief eintraf. Der Oberamtmann las ihn vor und wurde bei einigen Stellen so gerührt, daß er kaum weiter zu lesen vermochte.
»Ich möchte das arme Kind zurückhaben,« sagte er, nachdem er zu Ende gelesen, »es fühlt sich unglücklich, und ich sehe nicht ein, warum wir unsrer einzigen Tochter das Leben so verbittern sollen. Was meinst du, Annchen, und Sie, lieber Vollert, wär’ es nicht besser?«
Der Prediger durchlas noch einmal den Brief, faltete ihn wieder zusammen und machte ein höchst zufriedenes Gesicht.
»Ich bin nicht Ihrer Meinung,« entgegnete er, »ja ich würde das für eine Sünde halten. Ilse ist bereits auf dem Wege einzusehen, daß sie noch vieles lernen muß, sie vergleicht sich mit den Genossinnen und erkennt ihre Fehler, die Lücken in ihrem Wissen. Wir haben schon mehr erreicht in dieser kurzen Zeit, als ich mir gedacht habe.«
»Das Heimweh ist ja natürlich,« fiel Frau Anne ein, »bedenke nur, wie schwer es einem an die Freiheit gewöhnten Wesen werden muß, sich plötzlich in den Schulzwang zu fügen! Die Regelmäßigkeit des Instituts ist ihrer ungebändigten Natur zuwider; zu Ilses Glück, sie wird sich fügen lernen, ihre Wildheit abstreifen und ein liebes, herziges Mädchen sein.«
Der Oberamtmann war verstimmt, daß man ihn nicht verstand. Weder der Prediger noch Frau Anne überzeugten ihn mit ihren Vernunftgründen. Er urteilte eben nur mit seinem weichen Herzen, und das litt sehr bei dem Gedanken an sein heimwehkrankes Kind.
Ilses Wünsche wurden natürlich alle erfüllt und zwar umgehend: Es mußte Kuchen gebacken und die schönste Wurst, nebst einem Stück Schinken aus der Rauchkammer geholt werden. Der Oberamtmann packte selbst die kleine Kiste und legte noch allerhand Leckereien mit hinein.
»Not soll sie wenigstens nicht leiden,« sagte er zu seiner Frau, die ihm lächelnd zusah. »Junge Menschen, die noch wachsen, haben immer Hunger. Wenn der Magen knurrt, muß er sein Teil haben; der beruhigt sich nicht, wenn man zu ihm sagt: ›Warte nur bis es zwölf schlägt oder Morgen oder Abend ist, dann bekommst du etwas.‹«
Frau Anne hätte gern erwidert, daß es viel besser sei, den Magen an regelmäßige Mahlzeiten zu gewöhnen, als zu jeder Tageszeit zu essen, aber sie schwieg. Sie dachte mit Recht, daß mit der Zeit Ilse von selbst von dieser Untugend zurückkommen werde.
***
Es war an einem Mittwoch Nachmittag im Monat August. Die erwachsenen Mädchen der Pension saßen im Speisezimmer beisammen, stopfend, flickend oder mit anderen Arbeiten dieser Art beschäftigt. Es war sehr heiß und gewitterschwül, und durch die geöffneten Fenster drang kein erfrischender Luftzug.
Ilse hielt ihren Strickstrumpf in der Hand und quälte sich, Masche auf Masche abzuheben. Es machte ihr Mühe mit den heißen, feuchten Fingern. Die Nadeln saßen so fest in den Maschen, daß sie kaum zu schieben waren. Sie glühte wie eine Rose bei ihrer sauren Arbeit, und der graue Strumpf, der eigentlich weiß sein sollte, wurde öfters aus der Hand gelegt. Nun fielen auch noch einige Maschen herunter, und Fräulein Güssow, die anwesend war, forderte Ilse auf, einmal zu versuchen, ob sie dieselben nicht allein wieder aufnehmen könne.
»Ich kann das nicht,« sagte Ilse, »die Nadeln kleben so, ich mag sie nicht mehr anfassen.«
»Wasche dir die Hände,« riet Fräulein Güssow, »dann wird es besser gehen.«
»Das hilft nicht,« erwiderte Ilse unmutig und legte das Strickzeug vor sich hin.
Die Mädchen lachten, und Grete, die ihr gegenübersaß, nahm es vorwitzig in die Hand, um den Fehler zu verbessern.
Ilse nahm es ihr fort. »Laß liegen,« sagte sie, »es ist mein Strumpf!«
Ehe noch Fräulein Güssow sie wegen ihres unpassenden Wesens zurechtweisen konnte, trat Fräulein Raimar in das Zimmer. Sie ging von einer Schülerin zur andern und prüfte deren Arbeiten, sie tat dies zuweilen, um sich an den Fortschritten zu erfreuen, oder auch zu tadeln, wenn es nötig war.
»Nun, wie steht es mit dir, Ilse?« fragte sie. »Hast du deinen Strumpf bald fertig? Zeige ihn einmal her.«
Ilse tat, als habe sie die Aufforderung nicht verstanden, sie schämte sich ihrer schmutzigen Arbeit.
»Ich will dein Strickzeug sehen, Ilse, hast du mich nicht verstanden?«
Etwas streng und hart klangen die Worte der Vorsteherin, und nun war es Trotz, weshalb sie den Gehorsam versagte.
Aufgebracht über diesen Widerstand nahm Fräulein Raimar ihr den Strumpf unsanft aus der Hand.
»Ich bin gewöhnt, daß meine Schülerinnen mir gehorchen und du wagst es, dich zu widersetzen? – Seht einmal Kinder,« fuhr sie fort und hielt mit spitzen Fingern das Strickzeug in die Höhe, »was sagt ihr zu dieser Arbeit? Sieht sie wohl aus, als ob sie einem erwachsenen Mädchen angehöre? Schäme dich! Niemals wieder will ich ein so unsauberes Strickzeug sehen.«
Aller Augen waren auf dasselbe gerichtet, und einige Pensionärinnen glaubten sich durch die Frage der Vorsteherin berechtigt, ein Wort mitzureden. Die vorlaute Grete meinte, daß ihre kleine fünfjährige Schwester daheim weit besser und sauberer stricke, ihr Strumpf sähe wie Schnee gegen Ilses aus, sie dürfe aber auch niemals mit schmutzigen Händen stricken.
Die ästhetische Flora verglich das façonlose Ding mit einem Kaffeebeutel, ein Vergleich, der Annemie so in das Lachen brachte, daß sie sich gar nicht wieder beruhigen konnte.
Was in diesem Augenblicke in Ilses Innerem vorging, ist schwer zu beschreiben. Sie sah sich verlacht und verspottet von allen Seiten und durfte sich nicht dagegen verteidigen. Ihr heißes Blut, ihre unbändige Natur bäumten sich mit aller Macht auf gegen die, wie sie glaubte, ihr öffentlich angetane Schmach. Sie geriet in eine so blinde Wut, wie sie bis jetzt noch niemals empfunden hatte, sie ballte die Hände und biß hinein, ihre Augen füllten sich mit heißen, trotzigen Tränen.
Fräulein Raimar hatte bereits das Zimmer verlassen, doch die Tür desselben hinter sich offen gelassen, sie hielt sich noch auf dem Korridor auf. Welchen Aufruhr sie in Ilse heraufbeschworen, ahnte sie nicht, sie würde ihn auch schwerlich begriffen haben, glaubte sie doch fest, durch eine öffentliche Beschämung Ilses Widerstand ein für allemal geheilt zu haben. Wie wenig verstand sie ein leidenschaftliches Gemüt! Gerade das Gegenteil hatte sie hervorgerufen. Ilses wilder Trotz stand in lichterlohen Flammen.
»Neckt sie nicht!« gebot Fräulein Güssow, die Ilse besser verstand. »Ich will nicht, daß ihr sie auslacht!«
Und Nellie, die einzige, welche mitleidig dem ganzen Auftritt zugesehen, nahm gutmütig den verachteten Strumpf in die Hand, um ihn wieder in Ordnung zu bringen.
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