»Das ist ganz meine Ansicht!« stimmte Monsieur Michael bei, »Sie werden sehen, meine Damen und Herren, Mademoiselle Ilse wird eine Zierde der Pension sein! Mit welcher Eleganz spricht sie französisch, wie gewählt setzt sie die Worte! Ah, sie ist ein Genie!« – Der kleine Herr hatte sich ordentlich in Begeisterung gesprochen und seine Worte mit lebhaften Gestikulationen begleitet.
»Ich wünsche von Herzen, daß Sie recht haben mögen,« entgegnete Fräulein Raimar und erhob sich von ihrem Platze. »An Liebe und Nachsicht wollen wir es nicht fehlen lassen, vielleicht gelingt es uns, Ilse verständig und gefügig zu machen.« –
Fürs erste schien noch wenig Aussicht dazu. Beim Mittagessen legte Ilse wieder den Beweis ab, wie recht Fräulein Raimar hatte, wenn sie behauptete, daß Ilse keinen Tadel vertragen könne.
Sie hielt die Gabel schlecht. Die Fingerspitzen berührten fast die Speisen. Das Gemüse verzehrte sie mit dem Messer und so heiß, daß sie manchmal, um sich nicht zu verbrennen, den Bissen wieder aus dem Munde fallen ließ. Auch hielt sie den Kopf sehr tief über den Teller gebeugt, was ihr das Aussehen eines hungrigen Kindes gab.
»Sitze gerade, liebe Ilse,« ermahnte die Vorsteherin, »es ist dir nicht gesund, so krumm zu sitzen.«
»Ich esse immer so,« erwiderte sie ziemlich kurz.
»Ich aß immer so, meinst du wohl, mein Kind, denn hier wirst du dich daran gewöhnen, zu tun, was Sitte ist ... Hast du zu Hause auch stets die Gabel so kurz gefaßt und mit dem Messer gegessen?«
»Ja,« sagte Ilse und warf den Kopf leicht in den Nacken. »Papa hatte nie etwas an mir auszusetzen, er war zufrieden, wenn es mir nur schmeckte.«
»Aber die Mama, hat auch sie deine Art zu essen gutgeheißen?«
Ilse schwieg. Eine Unwahrheit konnte und mochte sie nicht sagen, denn wie oft hatte die Mutter sie ermahnt, und wie oft hatte sie derselben zur Antwort gegeben: »Dann will ich gar nichts essen, wenn du mich immer tadelst.«
Das Fräulein hatte leise, nur für Ilse verständlich gesprochen. Niemand ahnte, was sie sagte, denn ihre Züge sahen mild und freundlich aus. Eine Antwort auf ihre Frage wartete sie nicht ab, aber es gefiel ihr, daß Ilse lieber schwieg, als gegen ihre Überzeugung sprach.
»Nun iß nur, Kind,« fuhr sie fort, »mit der Zeit wirst du dich schon gewöhnen. In wenigen Wochen hast du alle deine kleinen Unebenheiten abgestreift und wir werden niemals nötig haben, etwas an dir zu rügen. Nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht,« erwiderte Ilse und sah mit einem ziemlich verdrießlichen Gesicht auf ihren Teller nieder.
»Du mußt dir Mühe geben, dann wird es schon gehen.«
Dazu schwieg Ilse. Natürlich war sie fest davon überzeugt, daß ihr das größte Unrecht geschah. Warum sollte sie nicht natürlich essen? Der Papa hatte stets gesagt, sie solle keine Zierpuppe werden, nun hatte man bei allem, was sie tat und wie sie es tat, etwas auszusetzen. Sie wagte kaum noch etwas zu genießen und wenn das so weiter ging, wollte sie lieber verhungern. –
***
Am Abend, als Nellie und Ilse sich schlafen gelegt hatten, als Fräulein Güssow bereits ihre Runde gemacht, als das Licht gelöscht und alles still im Hause war, rief Nellie, »wachst du, Ilse?«
»Ja,« antwortete diese, »was soll ich?«
»Zieh dir leise an, wir wollen dein kleiner Koffer auspacken.«
»Es ist ja aber dunkel,« meinte Ilse.
»O laß nur, ich habe schon eine Licht.«
Leicht und unhörbar stieg Nellie aus ihrem Bette und ging auf Strümpfen an ihre Kommode. Sie zog den oberen Kasten vorsichtig heraus und nahm einen kleinen Wachsstock aus demselben. Nachdem sie ihn angezündet hatte, stellte sie ein Buch davor, damit kein Lichtschimmer durch das Fenster drang.
»Ist doch fein, nicht?« fragte sie. »Nun eile dich aber,« trieb sie Ilse, die sich flüchtig ankleidete.
»Wo hast du der Schlüssel?«
»Hier habe ich ihn,« entgegnete Ilse und zog ihn unter dem Kopfkissen hervor, »ich werde selbst aufschließen.«
Nellie leuchtete mit dem Wachsstocke und hielt die Hand davor. Vornübergebeugt stand sie in neugieriger Erwartung, der Schätze harrend, die sich vor ihren Augen auftun würden. Recht enttäuscht wurde sie, als Ilse anfing auszupacken. Die erwarteten Delikatessen – Nellie war eine Freundin davon – kamen nicht zum Vorschein.
»O, hast du keine Kuchen?« fragte sie, warf den Plunder heraus und durchsuchte mit der Hand bis auf den Grund.
»Au, au!« rief sie plötzlich und fuhr mit der Hand zurück. »Was ist dies? Ich habe mir gestochen!« Und richtig, ein roter Blutstropfen hing an dem kleinen Finger.
Ilse begriff nicht, woher die Verwundung kam, bis sie selbst in den Koffer griff und die Ursache entdeckte, – – o Schrecken! das Glas mit dem Laubfrosche war zerbrochen, und Nellie hatte sich an einem Glassplitter geritzt.
»Wo nur der Frosch ist,« sagte Ilse ängstlich und räumte die Scherben fort.
»Was? – eine Frosch? Eine lebendige Frosch? O je – hast du ihn verpackt? Wie kannst du so eine arme Tier in die Koffer tun? Ohne Luft muß er tot gehen!«
Ilse hatte soeben den kleinen Laubfrosch gefunden, – natürlich war er tot. Sie legte ihn auf die flache Hand und hauchte ihn an, vielleicht brachte sie ihn wieder zum Leben. Nellie lachte sie aus.
»Du hast die arm, klein Frosch gemordet,« sagte sie und nahm ihn in die Hand. »O, er ist kaput! Er kriegt keine Leben wieder, niemals! Morgen früh wollen wir ihn in ein Schachtel legen und unter die Linde vergraben.«
Ilse sah traurig auf den Frosch und die Tränen traten ihr in die Augen. Sie hatte das Tierchen selbst gefangen, es stets gefüttert und eine große Freude daran gehabt, nun hatte sie es getötet durch eigne Schuld.
»Wie schlecht von mir, daß ich so dumm sein konnte!« klagte sie sich an. »Ich dachte gar nicht daran, als ich meine Sachen packte, daß er ersticken müsse. Es ging so schnell –«
Einigermaßen tröstete sie die Aussicht auf das Begräbnis unter der Linde.
»Wir machen eine kleiner Hügel,« sagte Nellie, »und pflanzen Blumen darauf. Und ein klein Holzkreuz stecken wir in die Erden und schreiben daran: Hier ruht Ilses Frosch. Er mußte sein junge Leben lassen, weil ihm der Luft ausging.«
Dieser komische Einfall trocknete Ilses Tränen, sie mußte darüber lachen.
Als sie den ausgestopften Kanarienvogel ansah, fand sie, daß er sehr gelitten hatte. Das Köpfchen war ganz breit gedrückt und der eine Flügel hing herunter. Nellie gab ihm wieder einige Façon. Sie drückte den Kopf rund und versprach auch, den Flügel wieder gut zu machen. Sie wollte ihn am andern Tage anleimen.
»Laß mir nur machen,« sagte sie, »ich werde ihm schon wieder in die Ordnung bringen.«
»Was ist denn das?« fragte sie plötzlich und hielt Ilses Blusenkleid in die Höhe, »warum hast du diese schmacklose Robe eingepackt, – und die alte schmutzige Stiefel, – was soll damit?«
Warum? Darüber hatte Ilse selbst noch nicht nachgedacht, aber sie war ärgerlich, ihr Lieblingskostüm so verachtet zu sehen.
»Du verstehst nichts davon,« sagte sie und nahm es Nellie fort. »Es ist mein liebster und schönster Anzug! Ich mag die andern Kleider gar nicht leiden, sie sitzen so fest und sehen so geziert aus.«
»O laß mir ihn probieren,« bat Nellie, »ich will ihn anziehen.«
Dagegen hatte Ilse nichts einzuwenden. Sie half Nellie ankleiden und in wenigen Augenblicken stand diese in einem ganz wunderbaren Aufzuge da.
Der Rock war ihr zu kurz, da sie etwas größer als Ilse war, unter demselben sah das lange, weiße Nachtgewand hervor, die Bluse war stellenweise zerrissen und Nellie hatte den Ärmel verfehlt und war durch ein großes Loch dicht daneben herausgefahren, so daß der Ärmel auf dem Rücken hing. Nachdem sie auch noch den schäbigen Ledergürtel um ihre zierliche Taille geschnallt hatte, stand sie fertig da, bis auf die Stiefel, die sie nicht anziehen mochte, weil sie zu schmutzig waren.
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