»Wissen Sie die Adresse des Herrn Armand Duval?« fragte ich.
»Ja, er wohnt in der Rue***; wenigstens bin ich dahin gegangen, um das Geld für diese Blumen hier zu holen.«
»Ich danke Ihnen, mein Freund,« sagte ich zu dem Gärtner.
Ich warf einen Blick auf das blühende Grab, und es drängte sich mir unwillkürlich der Wunsch auf, die Tiefe desselben zu untersuchen, um zu sehen, was die Erde aus dem ihr anvertrauten reizenden Geschöpf gemacht hatte. Ich entfernte mich in wehmütig ernster Stimmung.
»Wünschen Sie Herrn Duval zu sprechen?« fragte der Gärtner, indem er neben mir herging.
»Ja,« erwiderte ich.
»Er wird gewiß noch nicht von seiner Reise zurück sein,« sagte er, »denn sonst würde ich ihn schon hier gesehen haben.«
»Sie sind also überzeugt, daß er das arme Mädchen nicht vergessen hat?«
»Ich bin nicht nur davon überzeugt, sondern ich würde darauf wetten, daß er die Tote wiederzusehen wünscht, und daß er sie hauptsächlich deshalb in ein anderes Grab bringen lassen will.«
»Wieso?«
»Als er hierher kam, war seine erste Frage: »Wie ist es anzufangen, daß ich sie wiedersehe?« Ich antwortete ihm, es sei nur möglich, wenn man die Tote in ein anderes Grab bringen lasse, und machte ihn mit allen Formalitäten bekannt, die zu erfüllen sind, um die Bewilligung zu einer solchen Übersiedlung zu erhalten; denn Sie wissen, daß diese Bewilligung nur den Verwandten erteilt wird, und daß ein Grab nur in Gegenwart eines Polizeikommissärs geöffnet werden darf. Herr Duval ist nun in dieser Angelegenheit zu der Schwester der Jungfer Gautier gereist, und sein erster Besuch wird zuverlässig bei uns sein,«
Wir hatten das Tor des Friedhofes erreicht; ich dankte dem Gärtner noch einmal, indem ich ihm einige Geldstücke in die Hand drückte und suchte das von ihm bezeichnete Haus auf.
Armand war noch nicht wieder da. Ich ließ in seiner Wohnung einige Zeilen zurück, worin ich ihn ersuchte, sogleich nach seiner Rückkehr zu mir zu kommen, oder mir sagen zu lassen, wo ich ihn finden könnte.
Ich war tief ergriffen, und besonders durch Armands Vorsatz, den Leichnam Margaretens ausgraben zu lassen. Ich nahm mir vor, bei dieser traurigen Zeremonie gegenwärtig zu sein, denn alle jungen Leute lieben ja die nervenerregenden Eindrücke.
Am folgenden Morgen erhielt ich einen Brief von Duval, der mir seine Rückkehr anzeigte und mich ersuchte, zu ihm zu kommen, da er sehr erschöpft sei und das Zimmer hüten müsse.
Eine Stunde nachher klopfte ich an seine Tür.
Armand war wirklich im Bett. Er reichte mir seine fieberglühende Hand.
»Sie sind sehr krank,« sagte ich zu ihm, indem ich vor dem Bett Platz nahm.
»Es ist nicht von Bedeutung,« antwortete er, »es ist nur die Ermüdung von der schnellen Reise.«
»Sie kommen von Margaretes Schwester?«
»Ja; wer hat es Ihnen gesagt?«
»Ich weiß es und Sie haben Ihren Zweck erreicht?«
»Ja; aber wer hat Sie von meiner Reise und von dem Zweck derselben unterrichtet?«
»Der Gärtner auf dem Friedhofe.«
»Sie haben das Grab gesehen?«
Ich getraute mich kaum zu antworten, denn der Ton dieser Worte bewies mir, daß Armands Stimmung noch keineswegs beruhigt war und daß seine Aufregung durch jede Anspielung auf die traurige Angelegenheit, die ihn nach Paris zurückgeführt hatte, nur vergrößert werden würde. Ich antwortete also durch ein stummes Kopfnicken.
»Hat er sie gut besorgt?« fragte Armand weiter.
Zwei Tränen perlten über die Wangen des Kranken, der sich abwendete, um sie vor mir zu verbergen. Ich gab mir das Ansehen, als ob ich seine Gemütsbewegung nicht bemerkt hätte und suchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
»Es sind jetzt drei Wochen, als Sie abreisten,« sagte ich zu ihm.
»Ja, gerade drei Wochen,« antwortete er, mit der Hand über die Augen fahrend.
»Sie haben eine lange Reise gemacht.«
»Oh! ich war nicht immer auf der Reise,« setzte er hinzu, »ich war volle vierzehn Tage krank, sonst würde ich schon längst wieder zurückgekehrt sein, aber kaum war ich drüben angekommen, wurde ich vom Fieber befallen und mußte das Zimmer hüten.«
»Und Sie traten die Rückreise an, ohne vollkommen wiederhergestellt zu sein?«
»Wenn ich acht Tage länger dort geblieben wäre, so hätte ich sterben müssen.«
»Aber jetzt, da Sie wieder zu Hause sind, müssen Sie sich schonen; Ihre Freunde werden Sie besuchen und ich vor allen anderen, wenn Sie erlauben.«
»In zwei Stunden werde ich aufstehen.«
»Welche Unbesonnenheit!«
»Es muß sein.«
»Was haben Sie denn so Dringendes zu tun?«
»Ich muß zum Polizeikommissär gehen.«
»Warum beauftragen Sie nicht lieber einen anderen mit diesem Geschäft, das Ihren Zustand ohne Zweifel noch verschlimmern wird?«
»Weil es das einzige Mittel ist, das mich heilen kann. Ich muß sie sehen. Seitdem ich ihren Tod erfahren und zumal seitdem ich ihr Grab gesehen habe, kann ich nicht mehr schlafen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Margarete, die bei unserem Abschied so jung, so schön war, wirklich tot ist. Ich muß mich selbst davon überzeugen. Ich muß sehen, was Gott aus diesem heißgeliebten Wesen gemacht hat, und vielleicht wird der Abscheu, den mir der Anblick einflößt, meinen Schmerz mildern. Sie werden mich begleiten, nicht wahr, wenn es Ihnen nicht gar zu sehr unangenehm ist?«
»Was hat Margaretens Schwester gesagt?«
»Nichts. Sie schien sehr erstaunt, daß ein Fremder einen Begräbnisplatz kaufen und Margarete eine Ruhestätte bauen lassen wolle, und unterzeichnete sogleich die Vollmacht, die ich zu haben wünschte.«
»Folgen Sie meinem Rate und warten Sie mit der Übersiedlung, bis Sie genesen sind.«
»Fürchten Sie nichts, ich bin stärker als Sie glauben. Überdies würde ich den Verstand verlieren, wenn ich diesen Gedanken, der mich verfolgt und dessen Verwirklichung ein Bedürfnis für meinen Schmerz geworden ist, nicht sogleich ausführte. Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht ruhig sein kann, bis ich Margarete gesehen habe. Es ist vielleicht ein Durst des Fiebers, das in mir glüht, ein Traum meiner schlaflosen Nächte, eine Folge meines Fieberwahnsinnes; aber wenn ich auch Trappist werden müßte, wie Rancé, so muß ich sie sehen!«
»Ich begreife das,« sagte ich zu Armand, »und stehe Ihnen ganz zu Diensten. Haben Sie Julie Duprat gesehen?«
»Ja. Oh, ich habe sie schon am Tage meiner ersten Rückkehr aufgesucht.«
»Hat sie Ihnen die Papiere übergeben, welche Margarete für Sie bestimmt hatte?«
»Hier sind sie.«
Armand zog unter seinem Kopfkissen eine Papierrolle heraus und steckte sie sogleich wieder darunter.
»Seit drei Wochen,« sagte er, »habe ich diese Papiere zehnmal täglich gelesen. Sie sollen sie auch lesen, aber später, wenn ich ruhiger bin und Ihnen sagen kann, welches innige Gefühl aus diesen Bekenntnissen spricht. Heute vermag ich es nicht. Jetzt habe ich Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.«
»Reden Sie, ich bin bereit.«
»Sie haben unten einen Wagen?«
»Ja.«
»Wollen Sie meinen Reisepaß nehmen und auf der Post fragen, ob Briefe für mich da sind? Mein Vater und meine Schwester haben mir gewiß nach Paris geschrieben, und ich bin in solcher Hast abgereist, daß ich mir nicht die Zeit genommen habe, vorher nachzufragen. Wenn Sie zurückkommen, so fahren wir miteinander zu dem Polizeikommissär, um ihn von der morgen stattfindenden Zeremonie in Kenntnis zu setzen.«
Armand übergab mir seinen Paß und ich begab mich nach dem Postbureau.
Es waren zwei Briefe unter dem Namen Duval da, ich nahm sie und kehrte zurück, Armand war angekleidet und zum Ausgehen bereit.
»Ich danke Ihnen,« sagte er, indem er seine Briefe nahm. »Ja, ganz recht,« setzte er hinzu, nachdem er die Adresse angesehen hatte, »sie sind von meinem Vater und meiner Schwester. Beide müssen mein Stillschweigen unbegreiflich gefunden haben.«
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