So wie beim „ersten Mal“
Der Trick besteht letztlich darin, sich wirklich auf jedes einzelne Mal so zu konzentrieren und dabei (trotz aller Routinen) ganz „da“ zu sein, im Moment zu leben und das Beste zu leisten, was gerade geht. Wer das schafft, wer sich das beibringt, lebt glücklich im Flow und wird zeitlebens besser.
Auch ich werde ab und zu gefragt, wie oft ich Vorträge und Seminare halte. Und wenn ich dann antworte, dass ich in den letzten Jahren auf locker über tausend komme, sehe ich in ungläubige Gesichter und höre hin und wieder die Frage: „Wie können Sie sich dazu denn noch motivieren?“
Nun, die Antwort ist im Kern die gleiche: Ich halte nicht tausend Mal den selben Vortrag oder das genau gleiche Seminar. Sondern jeder einzelne Vortrag vor jeder einzelnen Gruppe ist für mich wie eine Premiere (obwohl viele Inhalte immer wieder gleich sind). Denn (fast) jeder im Publikum oder in der Seminargruppe hört mich zum ersten Mal. Und wer mir bereits einmal gelauscht hat und es wieder tut, hat den Anspruch, es möge ihm mindestens so gefallen wie beim letzten Mal – sonst wäre er ja nicht wiedergekommen.
(Manchmal glaube ich sogar, ich halte gar keine Vorträge, sondern die Vorträge sprechen mich. Ich lasse einfach laufen, was ich sagen will: Es entstehen Gedanken, Worte, Sätze. Scheinbar mühelos quillt es dann aus aus mir heraus. Zwar schon oft formuliert, aber immer noch irgendwie neu. Der Inhalt benutzt mich gewissermaßen als Medium, um wieder und wieder vermittelt zu werden.)
Genau so hoffe und erwarte ich von AC/DC, dass sie sich bei jedem (ja, wirklich bei jedem einzelnen!) Konzert die Mühe geben, die es rechtfertigt, sich nicht einfach nur einen Song aus der Mediathek reinzuziehen, sondern ihre Musik live zu erleben.
Damit ein unvergesslicher Augenblick entsteht: für jeden einzelnen Musiker (Chirurg, Frisörin, Verkäufer) und für jeden einzelnen Open-Air-Besucher (Patienten, Kunden, Klienten, Kollegen, Freund(in), Partner, Sohn, Tochter, …).
Also: Wie sieht es denn bei Ihnen aus? Was tun Sie so Tag für Tag (beziehungsweise müssen Sie täglich tun)? Schaffen Sie es, sich dabei so hinzugeben, wie ein paar ältere Herren aus Australien?
Was man von Rockmusikern so alles lernen kann …
Wann es feige ist, feige zu sein (und wann nicht)
Ich finde ja, es ist nichts dabei, „feige“ zu sein: wenn uns ein betrunkener Autofahrer chauffiert, wir unser gesamtes Vermögen auf eine einzige Aktie setzen oder wir in den Eisbärkäfig klettern, um mit Knut zu kuscheln. Hier gilt: hohes Risiko! Mag ja sein, alles geht gut aus. Aber was, wenn nicht? Dann hätten wir gute Chancen auf einen „Darwin-Award“ wegen D ämlichkeit. Besser also, wir kneifen.
Einsatz verdoppeln?
Was aber ist ein Feigling? Einer, der so gut wie immer feige ist – und zwar selbst bei überschaubaren Gefahren. Wenn Sie Backgammon spielen, kennen Sie die Funktion des Doppel-Würfels: Sobald sich ein Spieler im Vorteil wähnt, kann er seinem Gegner anbieten, um den doppelten Einsatz zu spielen – also etwa um zwei Punkte statt um einen. Nimmt der Gegner nun an, riskiert er wahrscheinlich einen doppelten Verlust – schließlich liegt er im Spiel zurück. Lehnt er hingegen ab, verliert er sofort – und zwar nur den einfachen Punktwert. Na, wie würden Sie reagieren, wenn Sie zurückliegen? Alles hinwerfen? Lieber gleich einfach verlieren als den doppelten Verlust riskieren? Schade! Denn: Immerhin können Sie noch gewinnen – vor allem wenn der Doppel-Würfel sehr früh im Spiel zum Einsatz kommt, ist noch alles drin!
Rechnen wir mal: Angenommen, Ihr Gegenspieler doppelt, sobald er schätzt, dass die Gewinnchancen 70:30 für ihn stehen, und Sie nehmen den Doppel an. Dann verlieren Sie in zehn Partien 7 mal 2 Punkte, also 14 Punkte. 6 Punkte aber gewinnen Sie! Immerhin 30 Prozent aller Spiele, also 3 Siege mit je 2 Punkten. Und unterm Strich kommt dabei ein Verlust von 8 Punkten heraus (6 gewonnene minus 14 verlorene). Schade, schade. Aber: Lehnen Sie den Doppel-Würfel hingegen jedes Mal ab und geben sofort auf, verlieren Sie alle 10 Partien einfach – und somit ganze 10 Punkte! Sie bringen sich also um zwei Siegespunkte.
Arme „Feiglinge“!
Es scheint also so, als hätte ein „Feigling“ schlechtere Karten: Er vermeidet Risiken und verliert deswegen nicht nur häufiger, er verliert auch mehr Punkte. Außerdem gewinnt er nicht. Apropos gewinnen: Drehen wir die Betrachtung einmal um! Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Wahl, entweder mit 80-prozentiger Sicherheit 1.000 Euro zu gewinnen oder mit 100-prozentiger Sicherheit nur 700 Euro. Wie würden Sie sich entscheiden? Wohl die meisten würden hier spontan die sicheren 700 Euro nehmen – schließlich ginge man leer aus, wenn man das Pech hätte, zu den 20 Prozent Verlierern zu gehören.
Aber: Auch hier ist die „feige“ Entscheidung statistisch betrachtet falsch: Denn diejenigen, die die unsichere Variante wählen, gewinnen im Schnitt 800 Euro – also 100 Euro mehr als die vermeintlichen Feiglinge! Am besten fahren wir also, wenn wir uns an der höchsten Gewinn-wahrscheinlichkeit orientieren und Verluste gut wegstecken können – denn immer gewinnen geht halt nicht.
Durst in der Wüste
Warum aber neigen wir so häufig zur „Feigheit“? Weil unser Gehirn („Günter“) in erster Linie unser Überleben sichern will – und dafür reagiert es kurzfristig auf Gefühle: weg vom momentan Unangenehmen, hin zum Angenehmen. Statistik ist dem Gehirn dabei egal. Langfristigkeit auch.
Stellen Sie sich mal vor, Sie wandern durch die Wüste und haben einen riesigen Durst. Plötzlich treffen Sie auf einen anderen Wanderer, der Ihnen ein paar Schluck aus seiner Wasserflasche anbietet. Es wäre nun wahrlich bescheuert, die Flasche abzulehnen, nur weil in fünf Kilometern die nächste Oase auf Sie wartet! Also: Belohnung? Klar: sofort und mit 100-prozentiger Sicherheit! Egal, ob später mehr und vielleicht bessere Drinks auf Sie warten.
Bomben im Stadion
Natürlich ist die Situation nicht vergleichbar – der Einsatz in der Wüste ist schließlich ungleich höher: Es geht um unser Leben. Also scheinen wir immer dann gut beraten zu sein, den langweiligen Spatz in der Hand zu wählen, wenn es um besonders viel geht. Würden Sie zum Beispiel zu einem Fußballspiel ins Berliner Olympiastadion gehen, wenn Sie wüssten, dass bei jedem Spiel irgendwo eine Bombe hochgeht, bei der vier Menschen getötet werden? Vermutlich nicht, Sie sind ja nicht bescheuert. Das Spiel sollen sich lieber andere angucken! Und schon gar nicht, wenn wir die Wahrscheinlichkeit erhöhen, von der Bombe erwischt zu werden – sagen wir mal, indem wir 525 Leute wegbomben. Bei jedem Spiel wohlgemerkt.
Sie fragen sich, was das soll? Nun: Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 3.000 Menschen am Passivrauchen. Bei großzügig geschätzten 60 Millionen Nichtrauchern ist das ein Anteil von 0,005 Prozent, was etwa 4 Personen (3,75 um genauer zu sein) in einem 75.000 Leute fassenden Stadion entspricht. Ach, und wir meckern über das Rauchverbot in Gaststätten? Als Raucher würde man sich über solchen Zahlenkleinkram totlachen? Richtig: 140.000 Zigaretten-Tote gibt es jedes Jahr unter Rauchern zu beklagen, was bei ungefähr 20 Millionen Rauchern (die Ex-Raucher mal nicht mitgerechnet) einem Anteil von 0,7 Prozent entspricht – oder eben 525 Toten in einem 75.000 Leute fassenden Stadion. Bei jedem Spiel – und Sie haben eine Dauerkarte …
Sicherheit im Hier und Jetzt
Wie gesagt: Wahrscheinlichkeiten sind unserem Gehirn egal. Es zählt nur die vermeintliche Sicherheit des Hier und Jetzt. Rauchen aufhören? Verlustgefahr! Also: rauchen, so wie immer. Die Folgen: kurzzeitig Erleichterung, langfristig Aua. Mal eine neue Herausforderung angehen und sich freiwillig verändern? Verlust des Gewohnten möglich – lieber nicht! Sollen die anderen die Chancen ergreifen. In die Selbständigkeit investieren bei guten Gewinnchancen? Was aber, wenn es nicht klappt? Besser abwarten, bis alles wirklich sicher ist – und sich unsere Mitbewerber das größte Stück vom Kuchen geschnappt haben. Sie sehen: eigentlich ganz logisch unser „Günter“! Schließlich will er, dass es uns gut geht.
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