Politiker hebeln Grundrechte aus
Am 28. September 2011 feierte das Bundesverfassungsgericht im Badischen Staatstheater Karlsruhe seinen 60. Geburtstag. Dabei warf der inzwischen zurückgetretene Bundespräsident Christian Wulff der Bundesregierung zum wiederholten Mal vor, wichtige Entscheidungen ohne die notwendige Beteiligung des Bundestags getroffen zu haben. Gemeint hat er vor allem die Bankensanierung und die Euro-Schirme seit der Finanzkrise von 2008. Im Februar 2012 hat das Verfassungsgericht selbst diesen Trend gerügt: in seinem Urteil gegen einen kleinen geheimen Ausschuss von 9 (!) Abgeordneten, der nach dem Willen von Kanzlerin Merkel als „schnelle Eingreiftruppe“ dauerhaft anstelle des Bundestages über Euro-Rettungsschirme entscheiden sollte. Die viel beschworene Einigkeit nach außen ist ja nur sinnvoll, wenn man dafür nicht lügen muss. Aber der Zoff hat gute Gründe und geht folglich weiter. Das Wahlvolk dankt´s mit Protest, Parteiaustritt oder Wahlenthaltung. Wen wundert das noch?
Der letzte Papstbesuch und eine ganze Reihe von Urteilen aus Karlsruhe gegen Regierungspläne zeigen eine wachsende Tendenz zu moralischer Korruption. So jedenfalls würde ich die Kluft zwischen moralischem Anspruch und moralischer Glaubwürdigkeit nennen. Auch die Kirchen leiden darunter, in deren Einrichtungen über Jahrzehnte hinweg und zum Teil unter dem Schutz von oben sexueller Missbrauch und körperliche sowie seelische Misshandlung verbreitet waren. Bis zum heutigen Tag tun sich die Kirchen schwer bei der Zusammenarbeit mit der Justiz. Das Kirchenvolk reagiert ebenfalls mit massenhaften Austritten – zumal sich Kirchen der demokratischen Kontrolle entziehen und bei Sexualmoral oder Gleichberechtigung mit zweierlei Maß messen.
Die Zahl der Verfahren, die vor dem Bundesverfassungsgericht angestrengt werden, hat sich von 3400 im Jahr 1990 auf 6422 im Jahr 2010 fast verdoppelt. Wie pervers müssen Staatsrechtler eigentlich denken, die behaupten, die zunehmende Zahl von Verfahren sei doch ein Beweis für Vertrauen in den Rechtsstaat? Das Vertrauen in das höchste Gericht ist eine Sache, wachsendes Misstrauen gegenüber der „normalen“ Justiz oder den stets juristisch begründeten Ansprüchen von Regierungen und Parteien auf Deutungshoheit in Sachen Rechtsstaat eine völlig andere. So gesehen, sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Es sind ja nicht Stammtische, die in Karlsruhe klagen. Es sind ganz überwiegend Verbände, Gewerkschaften, Parteien, Abgeordnete, Kommunen oder Landesregierungen, die sich gegen Eingriffe von Bund oder Ländern in ihre Rechte wehren bzw. ihre Rechte durch die unteren Instanzen nicht gewahrt sehen. Dafür spricht eine schwer bestreitbare Tendenz bei Urteilen des Verfassungsgerichts: gegen die Bundesregierung, für Bürgerrechte und rechtsstaatliche Demokratie.
Unumstritten ist bei Fachleuten jedenfalls: Die Zahl der Verfassungsgerichtsprozesse wegen politischer Uneinsichtigkeit bzw. schwindender Bereitschaft, politische Konflikte auch politisch zu lösen oder solche Lösungen zu akzeptieren, steigt. Die Tendenz dahinter: Immer häufiger sollen Gerichte politische Konflikte lösen, vor allem im Arbeitsrecht (Entlassungen, Insolvenzen), aber auch im Wirtschaftsrecht (Insolvenzrecht, Wirtschaftskriminalität) und im EU-Recht (Migranten, Asylrecht, Lobbyismus etc.).
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Zeitungen, Fernsehen und Radio von solchen Kämpfen um moralische Grundfesten der Republik berichten. Dass keine materielle Korruption ohne die Erschütterung moralischer Fundamente möglich ist, versteht sich von selbst. Beispiele reichen von der „Starfighter“-Affäre bis heute: 1958, zufällig nach einer 12-Millionen-D-Mark-Spende des Herstellers Lockheed an die CSU, kaufte deren Vorsitzender Franz-Josef Strauß als Verteidigungsminister das berüchtigte Kampfflugzeug (178 Abstürze in zehn Jahren). Es folgten diverse Parteispendenskandale mit den berühmten „Gedächtnislücken“ des Otto Graf Lambsdorff (FDP) und Helmut Kohl (CDU), die „Lustreisen“ von Gewerkschaftern und VW-Betriebsräten (auch eine Form von Hartz-IV-Finanzierung) oder die Siemens-Bestechungsaffäre. Der Wähler hat dabei das Gefühl, immer nur die Spitze eines Eisberges zu sehen. Die „kalte Progression“ ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie Politik sogar zwingende Vorgaben des Verfassungsgerichts kaltschnäuzig ignoriert: Diese Form den Besteuerung ist schlicht verfassungswidrig, aber nichts tut sich.
Die „kleine Münze“ der Enttäuschung über den demokratischen Rechtsstaat zeigt sich in der Reaktion von Millionen kleiner Leute auf Jahrzehnte gesetzlicher Zickzack-Kurse von großer moralischer Beliebigkeit. Wer Steuerrecht nach Kassenlage macht, darf sich nicht wundern, dass immer mehr Steuerzahler das für ungerecht halten. Ähnlich ist es bei der illegalen Beschäftigung polnischer Pflegekräfte. So etwas machen die Leute nicht aus Bosheit, sondern weil die legale Regelung solcher Arbeitsverhältnisse für die meisten schlicht unbezahlbar ist. Zynismus taugt nicht als Ersatz für den klaren Blick auf die Wirklichkeit: Gerechtigkeit wird zum ruinösen Selbstversuch, Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit geraten zum Volkssport. Der Ehrliche ist der Dumme: Da dreht sich eine fatale, sich selbst verstärkende Spirale. Das Schlimmste daran ist ein Automatismus der Frustration.
Enttäuschung als statistischer Normalfall
Wie viele Streitfälle gehen allein wegen Hartz IV vor Gericht, wie viele wegen Scheidung und Unterhalt? Wie oft ist das Sorgerecht geändert worden und macht die Gewinner von heute zu den Verlierern von morgen – und wie oft das Erbrecht, das Strafrecht, das Sozialrecht mit den Regeln für Abgaben zur Krankenversicherung oder das Arbeitsrecht und das Insolvenzrecht? Lauschangriff nein, heimlicher Computerzugriff ja, Videoüberwachung je nachdem. Oder nehmen wir Staatsbürgschaften: Warum für Opel ja und für Schlecker nein, ist nicht mehr zu vermitteln. Finanzausgleich, Soli, Bankenrettung oder Millionärssteuer und Transaktionssteuer für kleine Privataktionäre, aber nicht für große Derivatezocker? Psychologisch verheerend: Gesetze folgen Mehrheiten und nicht moralischen Maßstäben. Und jedes Mal gibt es mindestens 50 Prozent Verlierer. Freilich zweifelt nur eine Minderheit der Verlierer in einem Rechtsstreit gleich am System. Doch im Lauf der Zeit, fürchte ich, ergeben viele Minderheiten eine Mehrheit von Enttäuschten. Mehrheiten aber nicht mehr für „systemrelevant“ zu halten und Parlamente zu ignorieren, ist undemokratisch.
Dabei ist das deutsche Grundgesetz etwa im Maßstab des Völkerrechts vorbildlich. Das sagen nicht nur Verfassungspatrioten wie Bassam Tibi („Krieg der Zivilisationen“), sondern auch viele deutsche Juristen mit internationaler Erfahrung. Präsentiert sich z. B. China als Rechtsstaat, ist das nach Ansicht des Völkerrechtlers Hans Stephan Puhl (FAZ, 9.4.1990) mit Vorsicht zu genießen: „Stolz wie ein Jäger über seine Strecke oder wie eine Hausfrau über den Frühjahrsputz zeigt man in der Volksrepublik Kriminelle, die man gefasst hat oder die ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Wanderausstellungen mit Fotos der Bösewichter und ihrer Häscher machen die Justiz zur moralischen Veranstaltung. Zu öffentlichen Hinrichtungen in Sportstadien werden ganze Schulen abkommandiert.“
Die Moral der „moralischen Veranstaltung“ allerdings ist ohne die verbindlichen Grundlagen eines Naturrechts höchst subjektiv, um nicht zu sagen beliebig: Allein im Herbst 1989, als Ostdeutschland skandierte „Wir sind das Volk“, wurden in China 28 000 Menschen für schuldig befunden, eines der „sechs Grundübel“ begangen zu haben: Pornographie, Glücksspiel, Rauschgift, Prostitution, Frauenhandel, feudaler Aberglaube. Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl, Ausbeutung oder Wirtschaftskriminalität wiegen weniger schwer, ebenso Umweltverschmutzung mit vielfacher Todesfolge.
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