Frauke sah Malte überrascht an. Sie hatte gar nicht gewusst, dass er so patent war. Viele Frauen neigten dazu, ihn zu übersehen - mit seinen etwas engstehenden Augen, der großen Nase und seiner Schüchternheit war er nicht besonders anziehend. Aber als Kumpel war er einfach klasse.
„Lecker“ bemerkte Maren trocken. „Meine Unterhosen werden jeden Dieb abhalten, da bin ich mir sicher.“
Frauke sah zu, wie Maren die beiden Taschen hinter den Vorhang schob, der normalerweise Eimer und Besen vor den Augen von Besuchern verbarg.
„Danke, dass ihr mir geholfen habt“ sagte sie erleichtert. „Ich weiß nicht, was ich ohne euch machen würde.“
„Ich finde das echt spannend“ sagte Maren mit einem Grinsen.
Als Malte sie ärgerlich ansah und mahnend eine Bewegung zu Frauke hin machte, wurde sie sofort wieder ernst.
„Entschuldigung, Frauke. Die Umstände sind für dich wirklich nicht schön. Aber wenigstens musst du dir keine Sorgen um die Rechnungen machen, die jetzt reinkommen.“
„Glaubst du nicht, die Scheine sind nummeriert oder so was?“ fragte Frauke zweifelnd.
„Du lebst doch schon seit zwei Jahren von dem Geld! Das hättest du längst gemerkt, wenn es registriert gewesen wäre.“
Malte nickte. „Ganz recht. Mach dir keine Gedanken, Frauke. Das wird sich alles finden. Ich finde, du hast es schwer genug. Da ist es doch nur gerecht, wenn du wenigstens keine Geldsorgen hast.
Aber Frauke beschloss, das Geld auf keinen Fall zu benutzen.
Nur wenn es gar nicht anders ging.
Andree Gehring bremste den Wagen scharf ab, bis er zum Stehen kam.
„Was hast du eben falsch gemacht?“ fragte er.
Markus zögerte. Der sommersprossige Gymnasiast bekam hinter dem Steuer den Mund nicht auf. Gehring nahm an, dass es bei Mädchen anders war. Zumindest hoffte er das für ihn.
„Hier gilt rechts-vor-links, oder?“
Markus war rot geworden und murmelte: „Schon, aber der da“ - er deutete auf einen schwarzen Polo, „der fährt ja nicht. Ich meine, er fährt so langsam… Er sucht vielleicht eine Hausnummer.“
„Es ist völlig egal, wie langsam er fährt. Er hat Vorfahrt, und du hältst an und wartest, okay?“
„Okay.“
Markus wartete, bis der Polo vorbeigeschlichen war. Dann fuhr er an und überquerte die Kreuzung. Er war einer der Schüler, die den Fahrschulwagen noch nie abgewürgt hatten. Er hatte garantiert schon ein paar Stunden hinter einem Steuer verbracht, bevor er die erste Stunde genommen hatte. Die Beherrschung des Fahrzeugs war bei ihm kein Thema - nur seine Unsicherheit.
„Entspann dich. Wir fahren jetzt mal auf die Bundesstraße.“
„Echt?“ Markus warf ihm einen nervösen Blick zu.
„Echt. Die nächste Schülerin wohnt in Katzenfurt. Die holen wir zuhause ab. Links abbiegen“ dirigierte er und unterstrich die Anweisung mit einer Handbewegung. „Wo musst du dich einordnen?“
„Auf der mittleren Spur“ antwortete Markus leise.
„Genau“. Er klopfte mit den Handknöcheln auf das Armaturenbrett.
„Schulterblick nicht vergessen!“ mahnte er.
Es war nicht viel los und Gehring schaltete in den Standby-Modus. Er überprüfte regelmäßig den nachfolgenden Verkehr mit Hilfe der Spiegel und achtete auf die nonverbalen Signale seines Schülers. Er gab ihm die nötigen Anweisungen, damit er, von der Altstadt kommend, die Bundesstraße Richtung Dillenburg fand. Das alles hinderte ihn nicht daran, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
Er hatte auf Dauer ein Problem, das war ihm klar. Er konnte vor Jule nicht verbergen, wenn er an Sportwochenenden teilnahm.
Bevor Max auf die Welt gekommen war, war es noch gegangen. Merle konnte da schon mal bei Freunden übernachten, und Jule traf sich mit ihrer besten Freundin sowieso lieber alleine - gerne auch über Nacht. Aber mit Max war alles viel aufwändiger. Allein, was man mitschleppen musste, wenn man verreiste: Kinderbett, hypo-allergene Nahrung, Windeln, tausend Spielsachen, weil dem Zwerg schnell langweilig wurde.
Jule erwartete auf einmal viel mehr Mithilfe von ihm als bei Merle. Er hatte nun mal viele Fahrschüler am Nachmittag und am Abend, was sollte er machen? Wenn er dann nach Hause kam, schien sie zu glauben, dass er nur darauf gewartet hatte, ihr die beiden Kinder abzunehmen, sie zu baden und ins Bett zu bringen.
Er war selber müde, verdammt. Er hatte abends keine Geduld mehr, die hatte er im Laufe des Tages bereits verbraucht.
Adam Pröll blickte verstört an dem Regal entlang. Hier musste der Tee sein. Der Tee, der Kaffee, die Kaffeemilch und das Müsli. Das alles gehörte in dieses Regal, in der zweiten Querreihe des Supermarkts.
Aber nichts davon war da. Stattdessen standen sauber aufgereiht Kosmetikartikel: Shampoo und Duschgel, nichts anderes, die ganze Reihe entlang.
Er drückte den Einkaufskorb fest gegen seinen Körper und lief zum Ende des Gangs, um in den Nachbargang zu schauen. Toilettenpapier, Taschentücher, Kosmetiktücher und Frauensachen.
Fassungslos sah er die rosafarbenen Verpackungen an.
Hier hätten die Konserven stehen müssen. Süßkonserven und Sauerkonserven. Er lief wieder zurück zum Duschgel. Er musste den Impuls unterdrücken, eine der Plastikflaschen aus dem Regal zu nehmen um zu prüfen, ob dahinter der Tee verborgen war.
Sie hatten alles geändert. Im ganzen Supermarkt. Das war nicht gut.
„Alles falsch eingeordnet!“ sagte er ärgerlich. Ein junges Mädchen warf ihm einen Blick zu und unterdrückte ein Kichern.
Ein alter, kleiner Mann kam die Reihe entlanggeschlurft.
„Alles falsch!“ sagte Pröll leise zu sich selbst.
„Die alte Ordnung war so, wie es sein sollte. Man darf doch nicht einfach alles ändern!“
Der Alte fischte sich ein Duschgel aus dem Fach über seinem Kopf und ging langsam weiter.
Pröll brachte den Plastikkorb zum Eingangsbereich des Marktes zurück, wo er ihn geholt hatte. Das Gemüse war am richtigen Ort, aber die Eier waren falsch einsortiert, die gehörten eigentlich neben das Knäckebrot.
„Hier kann man nicht mehr einkaufen!“ murmelte er.
An jedem ersten und dritten Donnerstag im Monat war er hier. Er hatte viele Wochen gebraucht um sich zuzutrauen, den riesigen Laden alleine zu betreten. Wenn viele Menschen da waren, abends und am Wochenende, war es unerträglich für ihn. Dann war nicht nur die permanente Musik aus den Lautsprechern zu bewältigen, sondern es schwebten auch viele verschiedene Düfte in der Luft, was sehr unangenehm war. Außerdem liefen die vielen Menschen wild durcheinander und machten Geräusche, die auszublenden über seine Kraft ging.
Adam wollte den Markt verlassen, aber der Durchgang öffnete sich nicht für ihn. Er ging nur von außen nach innen auf. Pröll stand davor und starrte den Metallbalken an.
„Sie müssen durch die Kasse gehen, sonst kommen Sie nicht raus“ sagte eine Frau, die weiße Turnschuhe mit neongrünen Schnürsenkeln trug.
„Ich will hier weg!“ sagte Pröll.
Die Frau wiederholte: „Gehen Sie doch zur Kasse. Man darf raus, auch ohne etwas gekauft zu haben.“
Der Schweiß stand Pröll auf der Stirn und er wischte beide Hände mechanisch an seiner Jacke ab.
„Soll ich Ihnen helfen?“ fragte sie.
Pröll sah die Frau nicht an. Er war kurz davor zu versuchen, die Absperrung mit Gewalt aufzudrücken. Er wusste, dass das ein Fehler war; aber er musste weg, er musste ! Zu viel Unerwartetes war ihm begegnet. Das packte er nicht.
„Wenn Sie wollen, dann folgen Sie mir einfach. Ich gehe auch raus“ fuhr die Frau fort. Aber er konnte nicht. Er fühlte sich wie gelähmt.
Pröll starrte auf die Turnschuhe der Frau. Es wäre schöner, wenn die Schnürsenkel weiß wären. Aber sie waren grün. Na gut.
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