1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Er watschelte davon und sie dachte, dass sie ihm die Zähne putzen müsste. Sie schmiss das Schokoladenpapier in den Abfall. Das Geschrei, das folgen würde - nein, das hielt sie heute Nachmittag nicht aus. Es waren ja nur die Milchzähne. Sie nahm sich fest vor, bei den richtigen Zähnen strenger zu sein.
Sie lehnte sich gegen die Küchenzeile, nahm ihr Handy und rief Monika an.
„Ich kann nicht kommen. Andree lässt mich hängen.“
„Ach, Scheiße, Jule. Ich hab’ uns vormerken lassen für das Nagelstudio. Kannst du die Kinder nicht bei einer Nachbarin lassen?“
„Merle könnte ich unterbringen, aber Max … der zerstört innerhalb von Sekunden alles, was nicht aus Stahl gefertigt ist. Kannst du nicht vielleicht morgen?“
„Ach, ich weiß nicht. Samstags ist es noch voller als freitags.“
Jule angelte mit der freien Hand nach der Zigarettenpackung. Eigentlich wollte sie aufhören, das Rauchen war zu teuer, aber sie schaffte es noch nicht. Wenn sie erst arbeitete, würde alles besser werden. Sie würde aus der Wohnung rauskommen. Sie hatte die verwohnte Küche und die Spielsachen auf dem Fußboden so satt!
„Also gut“ hörte sie Monika sagen. „Treffen wir uns morgen. Wir fangen mit einem Café Latte bei Georgio an und dann sehen wir weiter.“
Erleichtert atmete Jule auf. „Ja, das machen wir. Danke für dein Verständnis.“
„Ich würde Andree an deiner Stelle mal den Kopf waschen. Es sind schließlich auch seine Kinder!“
„Ja, ja, genau. Bis morgen dann. So um zehn?“
„Okay. Um zehn“
Dorothee Schmitt betastete ihre Wangenknochen und zog eine Grimmasse. Sie hob die Augenbrauen. Sie blinzelte. Dann entspannte sie bewusst alle Gesichtsmuskeln.
Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel: dezentes Make-up, blond getöntes Haar, das in einem weichen Bogen auf die Schultern fiel, eine gesunde, gleichmäßige Bräune, wie sie nur durch regelmäßige, aber nicht übertriebene Sonnenbäder hervorgerufen werden konnte.
Die Falten waren nicht zu übersehen. Feine weiße Linien, die sich deutlicher abzeichneten, wenn sie sich dem Spiegel näherte. Aber am schlimmsten waren die Augenlider. Sie verrieten ihr Alter.
Wenn sie vor der Narkose nicht so viel Angst hätte, wäre das schon längst erledigt. Sie hatte den Besuch bei Dr. Bender immer wieder zurückgestellt. Er hatte ihr vor mehreren Jahren phantastisch geholfen, als eine Unfallnarbe ihren rechten Unterarm entstellt hatte. Er konnte ihr auch weiter oben helfen, das wusste sie. Sie brauchte nur einen letzten Anstoß; einen Grund, der so gut war, dass er ihre Angst außer Kraft setzte.
Und diesen Grund hatte sie gefunden. Vielmehr: Er hatte sie gefunden. Sie würde den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen bekommen. Für ihr jahrzehntelanges ehrenamtliches Engagement im Bereich der Stadtpolitik und als Schul-Mediatorin.
Die Zeremonie würde Ende Juni in Wiesbaden stattfinden. Das hatte den Ausschlag gegeben. Andere Frauen ihres Alters hatten bereits das zweite Face-Lifting hinter sich. Was war schon dabei? Sie wusste von einer Kollegin im Stadtrat, dass man für die Heilung bis zu acht Wochen veranschlagen musste. Erst dann war man wieder ‚gesellschaftsfähig’.
Es hatte mit der Abschwellung zu tun, und mit der Verfärbung durch Blutbestandteile. Damit waren wohl blaue Flecken gemeint.
Sie schüttelte sich innerlich. Unangenehm, darüber nachzudenken. Aber die Details konnte sie getrost dem Facharzt überlassen. Sie würde einen Termin bei Dr. Bender vereinbaren.
Er war etwas kühl für ihren Geschmack, aber als Chirurg hatte er einen ausgezeichneten Ruf. Es reichte ihr, wenn er grob skizzierte, wie die Operation vonstatten gehen würde. Und er konnte ihr ja wohl hoffentlich einen Termin für die OP geben, der ausreichend weit von besagtem Tag entfernt lag.
Sie war wirklich nicht eitel. Aber es war an der Zeit, ihr Alter etwas weicher zu zeichnen. Nicht direkt kaschieren, aber doch … verklären, so konnte man es ausdrücken!
Ja. Verklären.
Adam Pröll betrat den Schreibwarenladen und warf einen schnellen Blick zur Kasse. War sie besetzt? Als Gustav Klein, der Besitzer, ihn ansah, senkte er den Kopf.
„Hallo Adam! Wenn du etwas Bestimmtes suchst, sag mir Bescheid.“
Adam kannte Klein schon lange. Klein war freundlich. Er musterte Adam nicht andauernd und erwartete auch nicht, dass er mit ihm redete. Ab und zu war es jedoch unvermeidlich, so wie heute.
„Ich brauche Klarsichthüllen“ sagte er und betrachtete dabei die Wand, wo Kugelschreiber, in verschiedenen Farben, durch eine breite Plastikvorrichtung aufrecht gehalten, ausgestellt waren.
Klein blickte Pröll prüfend an. „Brauchst du die Hüllen, um DIN A 4 Bögen abzuheften?“
„Nein“ sagte Pröll. „Ich brauche Hüllen für meine Hefte.“
Klein dachte nach. „Meinst du die GEO-Spezial Hefte, Adam?“
Klein wusste, dass diese ein für das Abheften ungünstiges Format hatten.
„Nicht die GEO Spezial-Hefte. Andere Hefte. Astronomie.“
„Ah. Ein neues Hobby?“
„Ich brauche zwanzig Hüllen.“
Klein dachte wieder nach. „Ich glaube, du meinst solche Prospektdinger. Wo man 200 Seiten auf einmal hineinstecken kann. Die oben offen sind.“
„Ja, ich meine Prospektdinger“ sagte Pröll mit Erleichterung in der Stimme.
„Die muss ich bestellen, Adam. Das dauert ungefähr eine Woche.“
„Eine Woche“ wiederholte Pröll. „Wo soll ich die Hefte so lange hintun?“
„Äh - vielleicht in einen Karton?“
„Aber dann liegen einige Hefte ganz unten und andere ganz oben. Ich komme an die unteren nicht ran. Das ist nicht gut.“
Klein war stolz darauf, dass Adam so viel mit ihm redete. Das kam nicht oft vor.
„Und wie wäre es mit einem Steh-Sammler? Die gibt es aus Plastik oder Karton. Da kommst du an alle Hefte gleich gut ran.“
„Ein Steh-Sammler. Wie viele Hefte gehen da rein?“
„Ungefähr … ah … zehn vielleicht?“
„Dann möchte ich drei Steh-Sammler. Und zwanzig Prospektdinger.“
„Gut. Die Bestellung schreibe ich auf. Die Steh-Sammler findest du da hinten im Regal. An der Wand. Du willst sicher verschiedene Farben.“
„Ich will immer verschiedene Farben.“
Klein stutzte. Hatte Adam eben einen Scherz gemacht? Er sah so ernst aus wie immer.
Der Ladenbesitzer lächelte. „Ich weiß.“
Adam suchte sich drei Steh-Sammler aus (rot, blau, grün) und betrachtete fasziniert die Leitz-Ordner, die links daneben standen.
Gustav Klein ahnte, was jetzt kommen würde.
„Es gibt drei neue Farben. Flieder. Rosa. Und Hellgrün.“
„Das stimmt, Adam. Die Ordner sind neu hereingekommen. Aber das sind Pastellfarben. Du hast, glaube ich, lieber kräftige Farben.“
„Ich habe lieber kräftige Farben“ bestätigte Adam. „Aber man kann diese Pastellfarben einordnen. Flieder zu blau. Rosa zu rot. Hellgrün zu grün.“
„Ich schätze, das könnte man tun.“ sagte Klein.
Adam würde die drei Ordner kaufen und in seinem Regal farblich einsortieren. Danach würde er die Unterlagen aus den bisherigen Ordnern herausnehmen und neu verteilen, damit die Reihenfolge wieder stimmte.
‚Ach, was soll’s?’ dachte Klein. ‚Es macht ihn zufrieden. Ob er seine Welt so ins Gleichgewicht bringen kann?’
Adam legte feierlich drei Leitz-Ordner, drei zusammengefaltete Steh-Sammler und einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tresen.
„Gut. Dann hast du ja etwas Nützliches gefunden heute.“
„Ich habe etwas sehr Nützliches gefunden heute“ bestätigte Adam, die blauen Augen fest auf den Verkaufstisch gerichtet. Für einen Augenblick entspannte sich sein Gesicht.
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