„Der Supermarkt?“
Frauke unterbrach das Aufklopfen ihres Frühstückeis und sah Maren interessiert an.
„Was hast du nochmal gesagt, hat dieser Adam für eine Diagnose?“
„Ich habe gar nichts gesagt. Aber wenn es dich interessiert: Asperger. Das bedeutet …“
„Ich weiß, was das bedeutet, Maren!“ sagte Frauke halb entrüstet, halb fasziniert. „Es ist eine Autismusspektrumsstörung. Ich habe mal Psychologie studiert, erinnerst du dich?“
„Äh - entschuldige. Genau.“
„Ich glaube, ich kenne Adam.“
„Ja? Hast du ihn schon einmal in der Kirche gesehen?“
Frauke war keine große Kirchgängerin mehr, im Gegensatz zu früher. Es war Maren noch nicht gelungen, das zu ändern.
„Nein, im Supermarkt. Ist er groß, mit dunklen kurzen Haaren?“
„Ja“ antwortete Maren überrascht. „Erzähl!“
Frauke schilderte die Begegnung mit Adam Pröll und gab sich Mühe, nicht respektlos von ihm zu sprechen. Seit ihrem Praktikum in der Psychiatrie sah sie Menschen mit Handicap mit anderen Augen.
Maren sah Frauke anerkennend an. „Das war eine gute Idee, mit dem Einkaufswagen.“
„Ja, da hat mir die Erinnerung an das Psychiatriepraktikum geholfen. Ich wusste auf einmal, wie ich reagieren könnte.“
„Klasse! Und es hat funktioniert. Meinst du nicht, es wäre interessant, sich mal mit Adam und seiner Mutter zu treffen?“
Frauke dachte darüber nach. Falls Adam sie akzeptierte, wäre es mit einem Treffen nicht getan. Dann ginge sie eine Verpflichtung ein. Wollte sie das? Wollte sie Verantwortung für jemand anderen übernehmen?
Es war nicht dasselbe, wie gezwungenermaßen Verantwortung für Geschwister zu haben. Sie konnte auch ‚Nein’ sagen. Sie konnte Bedingungen aushandeln, die ihr die Freiheit ließen, auch wieder zu gehen. Und schließlich hatte sie ja Psychologie studiert mit dem Ziel, Therapeutin zu werden, oder?
Das Studium war allerdings weit weg und ein Abschluss unsicher. Im Moment fühlte es sich so an, als hätte sie das Studium abgebrochen. Wenn sie so einen Integrationsjob hätte, dann wäre sie wenigstens mit einem Fuß noch drin in einem Bereich, der mit ihrem Studium zu tun hatte. Vielleicht konnte sie sich später sogar etwas davon anrechnen lassen.
Sie blickte auf. „Ich weiß nicht, Maren. Es müsste total unverbindlich sein.“
Maren ging darauf sofort ein. „Natürlich! Das ist doch klar. Die Edith - ich meine: die Frau Pröll - ist eine sehr realistische Frau. Mit der kannst du Klartext reden.“
Sie zögerte. Dann stellte sie doch die Frage.
„Darf ich ihr deine Handynummer geben?“
„Nein, aber du kannst mir ihre Nummer geben. Ich rufe sie an. Aber erst, wenn du ihr das angekündigt hast.“
„Klar, kein Problem.“ Maren war erleichtert. Das war besser gegangen, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte so ein Gefühl, als ob Frauke und die Prölls gut zusammenpassen würden. Und seine Brötchen nur mit Putzen verdienen - das ging doch nicht. Nicht auf Dauer. Und nicht bei jemandem, der so klug war wie Frauke.
Andree Gehring holte zwei Bierflaschen aus dem Keller. Es war Samstag, 11:43 Uhr - spät genug, um sich ein richtiges Bier zu genehmigen. Er trank unter der Woche alkoholfreies; nur am Wochenende erlaubte er sich das echte, das nach etwas schmeckte.
„Ach, Mist!“
Er musste mit dem Bier doch noch warten. Er war mit den Kindern ja allein. Jedenfalls in den nächsten paar Stunden. Wenn etwas passierte und er ins Krankenhaus fahren musste, durfte er keine Fahne haben. Von seinem Führerschein hing seine Existenz ab, den würde er auf keinen Fall aufs Spiel setzen.
Er holte für sich selbst ein alkoholfreies Bier. Jens hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und las Zeitung. Andree stellte die Flaschen auf den Couchtisch und beobachtete die beiden Kinder, die im Garten spielten.
Merle fuhr einen Puppenwagen spazieren, der mit Puppen vollgestopft war, die alle - wie sie selbst - rote Haare hatten. Eine Zeitlang hatten die Verwandten und Freunde ihr solche Spielsachen geschenkt, als ob es dadurch leichter wurde, mit feuerrotem Haar durchs Leben zu gehen. Sie trug einen alten Damenhut, den sie mal auf dem Flohmarkt gekauft hatten und der ihre empfindliche Haut vor der Sonne schützte.
Max stocherte mit zwei Stöckchen gleichzeitig in einem Erdloch und schien sich dabei mit den Ameisen zu unterhalten. Nicht mit Worten, eher telepathisch.
Er benutzte beide Hände für das, was er tat, schon immer. Wenn es Eis gab, wollte er in jeder Hand eines halten. Kuchen stopfte er mit beiden Fäusten in seinen kleinen Mund.
Er hatte Angst zu kurz zu kommen. Oder das, was er ergattert hatte, wieder hergeben zu müssen. Gegen die fast vier Jahre ältere Schwester hatte er an sich keine Chance - außer wenn er schrie. Er konnte sehr gut schreien.
„Tut mir leid, dass ich dir heute nicht helfen kann, Jens“ beteuerte Andree. „Jule ist immer noch sauer, dass ich gestern nicht da war. Sie ist mit ihrer Freundin weg.“
„Schon gut. Wenn ich eine Batterie von dir kriegen kann, schaffe ich den Rest auch alleine. Am Montag kommt ein Kunde, der bereit ist, zehntausend hinzublättern. Nicht schlecht dafür, dass mich der Wagen praktisch nichts gekostet hat.“
Andree war sicher, dass das übertrieben war. Jens war gut darin, Wagen überzeugend als schrottreif darzustellen, aber ganz umsonst hatte er den alten Mercedes bestimmt nicht bekommen.
Er wollte allerdings gar nicht so genau wissen, wie Jens das gedeichselt hatte. Es war die unausgesprochene Grundregel: Andree half Jens beim Reparieren und stellte keine Fragen. Er konnte mit dieser Regel gut leben.
Jule konnte Jens nicht leiden. Sie wusste nicht, dass Andree seine Arbeitsstunden penibel abrechnete und das Geld für sein Hobby nahm. Jule brauchte nicht alles zu wissen, was ihn und Jens betraf. Ohne Jens hätte er nicht so gut trainieren können.
Seine Kondition hatte sich enorm gesteigert. Jetzt konnte er sich überlegen, ob er einen Vorsteiger-Lehrgang absolvieren wollte. Den Top-Rope Kletterschein zu machen hatte ihm ungeheuer viel Spaß gemacht.
Eigentlich müsste ich mit den Kindern etwas unternehmen.
Das Wetter war gut; er hatte allerdings keine große Lust, sich schon wieder ins Auto zu setzen.
Oder vielmehr: Er hatte keine Lust, die Kinder in ihre Sitze zu setzen,
den Kampf mit dem Anschnallen hinter sich zu bringen, den Streit zu schlichten, welches Ziel sie ansteuern sollten und dann den ganzen Tag aufzupassen, dass sie nicht wegliefen und sich nicht verletzten.
Zuhause war alles viel einfacher. Als Mittagessen würde er Krümelnudeln mit Apfelmus machen, das kam immer gut an. Wenn es ihnen draußen zu langweilig wurde, konnten sie eine halbe Stunde fernsehen. Länger nicht, da waren Jule und er sich einig. Außerdem waren die Kinderzimmer vollgestopft mit Spielsachen. Die Kinder mussten lernen, sich auch mal alleine zu beschäftigen.
Er würde jedenfalls mit den Hanteln trainieren und Klimmzüge machen. Außerdem hatte er schon die ganze Woche vorgehabt, im Internet nach Kletterwänden zu suchen, die man selber aufbauen konnte. Wie teuer so etwas wohl war?
Auf der anderen Seite - wenn er ab und zu mit den Kindern einen Ausflug machte, vielleicht würde Jule dann nicht so einen Aufstand machen, wenn er auch mal Sport treiben wollte? Sie sollte froh sein, dass ihm an seiner Fitness etwas lag. Er war nicht verfettet wie Jens, der auf dem Sofa eine tiefe Delle hinterließ, wenn er aufstand.
Jens holte ihn aus seinen Gedanken heraus.
„Hast du mir überhaupt zugehört? Ich will wissen, ob du morgen mit mir zur Auto-Börse in Haiger fahren kannst?“
„Morgen? Hm … ich glaube schon. Ich ruf dich nochmal an.“
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