„Aber vergiss es nicht!“
Manchmal ging es Andree auf die Nerven, dass Jens ihn immer als Fachmann dabei haben wollte. Aber das würde er Jule gegenüber nie zugeben.
Jens trank seine Flasche in einem Zug leer.
Noch eins stelle ich dir nicht hin.
Er wollte, dass Jens jetzt ging. Solange der da war, konnte er nichts Sinnvolles machen. Und zum Rumhängen und Biertrinken war es wirklich noch zu früh.
Er stand mit einem Ruck auf und stellte sich an die Tür zum Garten. Merle hüpfte gerade auf einem Bein den Plattenweg entlang und Max versuchte es ihr nachzumachen. Dafür war er allerdings noch zu klein, er flog hin. Ohne mit der Wimper zu zucken stand er wieder auf und rannte zu der kleinen Schubkarre, die er mit Erde vollgemacht hatte.
Andree lächelte. Eine Heulsuse war er nicht, sein Sohn.
Er öffnete die Gartentür. „Max, Merle: Wollen wir zum Tierpark fahren?“
„Jaa!“ schrien beide und rannten auf ihn zu.
„Du bist der beste Papa der Welt!“
Dieser Scheiß-Containerservice!
Frauke hasste es zu spät zu kommen. Und das würde sie auf jeden Fall, selbst wenn der Lastwagen jetzt um die Ecke gebogen käme.
Was er nicht tat.
Ausgerechnet heute Nachmittag. Ausgerechnet bei den Prölls.
Sie stand bereits seit 35 Minuten auf der Straße, um den Mann, der sich auf ihrem Anrufbeantworter angekündigt hatte und dessen Namen sie nicht verstanden hatte, auf keinen Fall zu verpassen. Warum sie überhaupt zu Hause sein sollte, war ihr schleierhaft. Die würden doch sowieso eine Rechnung schicken.
Vierzig Minuten. Vor zehn Minuten hätte sie bei Prölls sein müssen.
Natürlich hatte sie angerufen und Bescheid gegeben. Frau Pröll hatte am Telefon nett geklungen. Der Kaffee sei in einer Thermoskanne und würde nicht so schnell kalt werden, hatte sie gesagt.
Aber Frauke wollte nicht gleich am ersten Tag einen schlechten Eindruck hinterlassen.
Ach, was soll’s. Wahrscheinlich ist das sowieso nichts für mich.
Im Grunde hatte sie das Treffen nur Maren zuliebe vereinbart. Frau Pröll hatte am Telefon freundlich und gelassen geklungen. Sie hatte eine junge Stimme; dabei musste sie ungefähr siebzig sein.
Endlich kam ein grauer Transporter um die Ecke gebogen. Der Fahrer grüßte kurz und begann, den Laster rückwärts zu bewegen - auf den Container zu. Frauke sah mit missmutigem Gesichtsausdruck zu ihm hin.
Bei dem Höllenlärm würde er sowieso nichts verstehen, selbst wenn sie jetzt ihrem Ärger Luft machen würde. Zu ändern war es auch nicht mehr, was auch immer der Grund für die Verspätung gewesen war.
Bin ich eigentlich genau wie meine Mutter geworden? Die alles immer geschluckt hat?
Manchmal kam es ihr so vor.
Der Fahrer stieg aus, um die beiden dicken Ketten am Stahlknauf des Containers zu befestigen. Dann ging er zum Führerhaus zurück und holte ein großes Bündel heraus. Er kletterte auf den Container und fing an, das Bündel auszubreiten - es war ein grobmaschiges Netz aus Hanf.
„Wie lange wird das denn dauern?“ rief Frauke nach oben.
Der Fahrer zuckte die Schultern.
„Wenn Sie den Container nicht so voll gemacht hätten, müsste ich das Netz nicht anbringen.“
Ach, Scheiße!
Fraukes fühlte, wie ihre Laune in den Keller rutschte.
„Sie haben mich vierzig Minuten warten lassen!“ sagte sie vorwurfsvoll und fühlte sich machtlos.
Der Fahrer sah sie abschätzig an. „Sie müssen bei uns immer plus/minus eine Stunde einrechnen“ sagte er gleichgültig.
Frauke hatte einmal in der Hauptpost erlebt, wie ein Mann angesichts der Warteschlange - es war kurz vor Weihnachten gewesen - mit seinem Handy mitten in der Schalterhalle den Kundenservice der Postbank angerufen hatte und mit lauter, zorniger Stimme den Angestellten am anderen Ende der Leitung heruntergeputzt hatte. Der Ausdruck ‚zur Sau gemacht’ würde es auch treffen.
Frauke hatte ungläubig und gleichzeitig fasziniert zugehört und war sich darüber im Klaren gewesen, dass sie so etwas nie machen würde. Sie war eine, die herunterschluckte. Laut zu werden lag nicht in ihrer Natur.
Also doch genau wie Mama.
Endlich war der Mann fertig und verschwand wortlos im Führerhaus. Er startete den Motor und fuhr ohne zu blinken zurück auf die Straße, wo er sich forsch in den Verkehr einfädelte.
Frauke sah ihm mit düsterem Gesichtsausdruck nach.
Warum, zum Teufel, hatte sie auf ihn warten müssen? Sie hatte noch nicht einmal etwas unterschreiben sollen.
Bei der Adresse, die Maren ihr gegeben hatte, gab es zwei Klingeln mit dem Namen Pröll. Frauke wählte ‚E. Pröll’ und hörte zwei Sekunden später das Summen des Türöffners. Sie drückte gegen das Holz und fand sich in einem dunklen, kühlen Hausflur wieder. Die beige Farbe blätterte an manchen Stellen ab und der Steinboden hatte auch schon bessere Tage gesehen.
Die Wohnungstüren jedoch sahen frisch gestrichen aus. Bevor Frauke auf die Namensschilder sehen konnte, öffnete sich die Tür links im Erdgeschoss und eine kleine, grauhaarige Frau trat auf die Schwelle und streckte ihr die Hand entgegen. Sie hatte ungewöhnlich helle blaue Augen.
„Frau Benning? Herzlich willkommen!“
Edith Pröll führte Frauke durch einen engen Flur in das Wohnzimmer. Es war altmodisch eingerichtet, aber nicht überladen, und wirkte deshalb ganz anders als das Wohnzimmer ihrer Eltern, als sie noch gelebt hatten.
Mehrere Sofas luden zum Sitzen ein. Neben einem Ohrensessel stand die dazu passende Leselampe. In dieser Wohnung wurden Bücher gelesen, das sah man. Die beiden Bücherregale an der Wand sahen allerdings etwas merkwürdig aus.
Fraukes Blick blieb an den Buchrücken hängen, die im linken Regal nach Farbe zusammengestellt waren. Im rechten Regal standen nur Bücher mit hellem Einband, welche wiederum nach Größe angeordnet waren.
In einer Ecke des Zimmers stand ein runder Tisch mit drei Gedecken darauf.
„Nehmen Sie doch bitte Platz!“
Frau Pröll deutete auf einen Stuhl. Adam Pröll war nicht zu sehen.
Frauke setzte sich und hörte, wie im Flur die junge Stimme von Frau Pröll sagte: „Kommst du runter, Adam?“
Es folgte eine Pause. Und dann: „Ich weiß. Sie wusste selbst nicht, wie lange es dauern würde, sonst hätte sie es mir gesagt und du hättest dich darauf einstellen können. Ich weiß, dass Warten für dich anstrengend ist.“
Wieder eine Pause.
„Ich verstehe. Also, bis gleich.“
Super. Adam Pröll ist bestimmt sauer mit mir. Das ist kein besonders guter Start für uns.
Frauke hörte, dass in der Küche hantiert wurde. Frau Pröll kam mit einer Kuchenplatte ins Wohnzimmer zurück, auf der ein Marmorkuchen lag. Sie schnitt ihn an und legte, nachdem Frauke genickt hatte, auf ihren Teller das erste Stück, bevor sie sich selbst und Adam auch ein Stück auflegte.
Adam Pröll kam ins Wohnzimmer herein; er war noch größer, als sie ihn in Erinnerung hatte und sie hätte ihn als sehr gutaussehend bezeichnet, wenn er nicht einen so angespannten Gesichtsausdruck gehabt hätte. Er setzte sich auf seinen Platz, sah auf seinen Teller und sagte nichts.
Frauke holte Luft und sagte schnell: „Es tut mir sehr leid. Normalerweise bin ich wirklich pünktlich. Heute ist … etwas schiefgelaufen.“
Adam sagte: „Jetzt sind Sie da. Jetzt ist es gut. Nur das Warten … damit komme ich nicht gut klar.“
Er warf Frauke einen kurzen Blick zu. Sie konnte unmöglich sagen, ob er sie wiedererkannt hatte oder nicht.
„Es ist meine Schuld“ sagte Frauke mit einem schlechten Gewissen. „Ich musste auf jemanden warten. Ich hatte einen Container auf der Straße, der wurde zu spät abgeholt. Es wäre besser gewesen, das an einem anderen Tag zu machen.“
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