„Da haben Sie natürlich Recht. Aber es fällt ihm schwer, seine Bedürfnisse zu formulieren. Es wird besser funktionieren, wenn Sie ihm Fragen stellen.“
„Also gut.“
Frauke und Adam hatten nach ihrer ersten Begegnung Bedenkzeit vereinbart. Frauke war zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht viel riskierte, wenn sie einem weiteren Treffen zustimmte. Sie hatte ja Zeit.
Das heißt, eigentlich hatte sie keine Zeit, wenn sie mit der Auflösung der Wohnung schnell fertig werden wollte. Aber wer konnte den ganzen Tag in so einem Chaos und Dreck arbeiten, ohne völlig durchzudrehen? Den Menschen wollte sie gerne mal sehen. Also würde es eben etwas länger dauern. Und sie würde sich ablenken, so viel sie nur konnte.
Sie hatte darüber nachgedacht, in was für ein Verhältnis sie sich bei den Prölls eigentlich begab. Der Begriff ‚Betreuung’ war nicht angemessen. Es handelte sich eher um Coaching, oder?
Adam betrat das Wohnzimmer und setzte sich an den Esstisch. Er sah ihr nicht in die Augen, betrachtete aber eingehend ihr Haar. Ob etwas damit nicht stimmte? Vielleicht hatte sich die Spange, mit der sie das Haar heute festgesteckt hatte, gelöst? Sie strich sich kurz über den Hinterkopf.
Edith Pröll hatte sich Nähzeug an den Tisch geholt und begann, Strümpfe zu stopfen.
„Guten Morgen“ sagte Adam zur Tischdecke.
„Guten Morgen“ antwortete Frauke. „Wie geht es Ihnen, Herr Pröll?“
„Ich bin müde, weil ich heute Nacht dreimal wachgeworden bin. Mein Blutdruck ist niedrig, da ich noch keinen Kaffee getrunken habe. Ich würde gerne oben in meiner Wohnung zum Fenster hinausschauen, aber das geht nicht, weil Sie da sind.“
Frauke wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Es war ihr zwar bekannt, dass Asperger-Autisten dazu neigten, alles wortwörtlich zu nehmen und Schwierigkeiten mit sogenanntem Smalltalk hatten. Aber das theoretisch zu wissen und in der Praxis eine passende Antwort zu finden, waren zwei Paar Schuhe.
Nun, wenn das hier ein Job für sie werden sollte, dann konnte sie gleich anfangen zu üben. Eines hatte sie jedenfalls eben feststellen können: Er war tatsächlich immer ehrlich. Eigentlich fand sie das gut. Dann wusste man, woran man bei einem Menschen war.
„Das stimmt“ sagte sie. „Ich bin da. Ich würde Sie gerne fragen, was Sie … lernen möchten. Wobei ich Ihnen helfen soll.“
Adam runzelte die Stirn.
„Ich würde gerne einem Verein beitreten. Aber fremde Menschen, neue Situationen … damit komme ich nicht klar.“
„Meinen Sie, Sie wissen nicht, wie Sie auf Menschen zugehen sollen?“
„Ich weiß nicht, was mich da erwartet. Ich weiß nicht, ob Menschen das meinen, was sie sagen. Ob sie mir wohlgesonnen sind oder nicht.“
„Was kann ich da tun?“
Er machte eine ungelenke Bewegung mit den Händen. „ Smalltalk - das beherrsche ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie das funktioniert.“
Frauke wusste nicht recht, wie man das angehen konnte. Konnte man Smalltalk denn lernen? Sozusagen als Trockenübung? Bestimmt war das wie beim Schwimmen - man musste es im Wasser lernen.
„Ich weiß nicht genau, ob ich Ihnen helfen kann.“
„Ich weiß es auch nicht“ sagte er. „Wenn Leute mit mir reden, kommt es häufig zu Missverständnissen. Manchmal verstehe ich später, was ich falsch gemacht habe. Wenn es mir jemand erklärt. Oft ist es mir aber rätselhaft.“
‚Was ich falsch gemacht habe’ dachte Frauke bestürzt. ‚Wie bedrückend muss das sein, unangenehm aufzufallen und gar nicht zu verstehen, was eigentlich los ist’.
Sie hatte vergangene Nacht im Internet gelesen, wie jemand diese Erfahrung versuchte zu beschreiben: Als ob man mit dem Flugzeug in China gelandet ist, die Sprache nicht spricht und keine Ahnung hat, was die Chinesen von einem erwarten - und ob man in drei Fettnäpfchen treten wird, noch bevor man den Flugafen verlassen hat!
„Ich würde gerne versuchen, Ihnen zu helfen, Herr Pröll“ sagte Frauke entschlossen. „Aber ich werde wahrscheinlich auch Fehler machen. Wir müssen uns beide erst aneinander gewöhnen.“
„Fehler sind nicht erstrebenswert“ sagte Pröll.
„Frauke nickte. „Aber man kann sie nicht vermeiden. Jeder macht Fehler. Sie machen Fehler. Und ich auch. Wir können trotzdem … Erfolg haben.“
Pröll sah kurz zu ihr hin.
„Dann werden Sie mir helfen?“
„Ja. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.“
Er nickte.
„Gut.“
Zum ersten Mal, seit Frauke ihn kennengelernt hatte, sah sein Gesicht entspannt aus. Er lächelte sogar kurz.
Edith Pröll blickte von ihrer Näharbeit auf, als hätte sie gerade in diesem Augenblick einen telepathischen Austausch mit dem gestopften Strumpf beendet.
Auch sie lächelte. „Jetzt müssen Sie aber endlich den Kuchen probieren“ sagte sie fürsorglich. „Ich habe zusätzlich Kirschen und Marzipan in den Teig hineingetan. Adam sagt, dass der Marmorkuchen dann ein angenehmes Gefühl auf der Zunge hinterlässt, schön schwer und feucht.“
Frauke probierte ein Stück und nickte überrascht. „Das schmeckt toll!“
Sowohl Frau Pröll als auch Adam nickten zufrieden.
Mark roch nach Zigarettenrauch. In der ersten oder zweiten Fahrstunde, samstags, hatte er auch nach Alkohol gerochen. Andree hatte ihn sofort rausgeschmissen. Mark hatte geschworen, es sei vom Abend vorher. „Herr Gehring, das ist nur Restalkohol“.
Er hatte Mark dazu verdonnert, die Theoriestunde ‚Alkohol und Drogen am Steuer’ zu besuchen und hatte ihn erst danach die Fahrstunden wieder aufnehmen lassen.
Mark war einer der Schüler, die sich schwer taten. Lernen war nicht sein Ding und am Steuer war er nervös, obwohl er sich cool geben wollte. Er würde etliche Stunden brauchen, um sicher zu werden, und genau dafür hatte er eigentlich nicht die Mittel.
Andree hatte das immer ungerecht gefunden, dass die Gymnasiasten, denen das Lernen sowieso leichter fiel, in der Regel keine Geldsorgen hatten. Da kam es auf zehn Fahrstunden mehr oder weniger nicht an. Aber die Azubis, die mit jedem Cent rechnen mussten, denen fiel es oft schwer, die vielen Informationen und Anweisungen, die sie im Unterricht bekamen, umzusetzen.
Den Führerschein zu machen konnte leicht 2500 Euro und mehr kosten. Wenn keine großzügige Oma da war, oder ein gut verdienender Vater, musste man das erst einmal auftreiben. In Marks Fall gab es weder Oma noch Vater, die ihn unterstützten. Marks Eltern waren geschieden und er lebte mit zwei Geschwistern bei seiner alleinerziehenden Mutter.
Andree mochte Mark. Er war ein netter Kerl, kein Angeber. Eher etwas schüchtern. Er gab sich Mühe. Wenn die Fahrstunde rum war, war er jedes Mal schweißgebadet.
Ab und zu musste Andree einem Schüler den Tipp geben, auch mal ein Deo zu benutzen. Wurde der Rat befolgt, war wenigstens der Anfang der Stunde noch erträglich. Im Hochsommer nützte das allerdings auch nichts.
Bei den Mädels war das Problem eher umgekehrt: Parfumgeruch im Auto, das ging bei ihm gar nicht. Auch da gab er dezente bis massive Hinweise, je nachdem, wie verliebt oder unsicher so ein junges Mädchen gerade war.
Mark fädelte sich in den Verkehr ein.
„Die nächste Straße biegst du rechts ab“ wies er ihn an. Mark tat es und Andree klopfte laut mit den Knöcheln gegen die Scheibe auf seiner eigenen Seite - das Zeichen, dass ein Schüler den Schulterblick vergessen hatte.
„Entschuldigung“ murmelte Mark.
„Fahr an den Kreisel heran… Verschaff dir einen Überblick. Gut. Was musst du tun?“
„Ersten Gang.“
„Richtig.“
Mark fuhr vorsichtig in den Kreisel hinein.
„Nimm die zweite Ausfahrt… Den Blinker hast du einen Tick zu spät gesetzt. Jetzt links abbiegen.“
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