Wenn seine Mutter hier wäre, würde sie zu ihm sagen:
„ Es ist nicht zu ändern, Adam. Das ignorieren wir beide jetzt.“
Dass im Supermarkt alles an einen anderen Platz gekommen war, das war nicht akzeptabel. Er konnte hier nicht mehr einkaufen.
Die fremde Frau sagte etwas zu ihm.
„Halten Sie doch bitte mal meinen Wagen fest.“
Sie hatte den Einkaufswagen zu ihm hingeschoben, so dass der Schiebegriff einen halben Meter vor seinem Bauch war.
„Ich nehme ihn vorne und Sie schieben von hinten, dann geht es besser, in Ordnung? Es wäre mir eine Hilfe.“
Er warf einen schnellen Blick in den Wagen; es lagen nur elf Artikel darin, zwei davon waren Kaugummi-Packungen.
Sie wartete, bis er zögernd eine Hand auf den Schieber gelegt hatte. Dann drehte sie sich von ihm weg, legte ihre Hand locker auf das vordere Ende des Einkaufswagens und setzte ihn langsam in Bewegung.
Er setzte einen Fuß vor den anderen. Sie entfernten sich von der Barriere, die sich nicht geöffnet hatte. Die Frau hatte kastanienbraune lange Haare, die offen über die Schultern fielen. Sie trug einen roten Pullover und blaue Jeans.
Sie lief mit ihm an den Taschentüchern und Frauensachen vorbei in Richtung Kasse.
Die Frau rief plötzlich: „Entschuldigen Sie bitte!“
Er zuckte zusammen und sah sich nach allen Seiten um, aber sie meinte nicht ihn. Sie ließ den Wagen los und ging zu einer anderen Frau mit pinkfarben gefärbten Haaren. Das Namensschild bedeutete, dass sie hier arbeitete.
„Können Sie mir sagen, warum alles umgeräumt worden ist?“
Die Verkäuferin strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Na, jetzt ist alles beieinander, was zusammen gehört. Ist übersichtlicher geworden.“
„Aber man findet nichts mehr!“
Die Verkäuferin nickte. „Das sagen alle, zuerst. Sie gewöhnen sich bestimmt daran.“
Die braunhaarige Frau ging zur Kasse. Sein Herz fing an zu klopfen - der Einkaufswagen und die Frau, sie beide versperrten ihm den Weg nach draußen. Ob es in Ordnung war, wenn er den Wagen fest nach vorne schob? Sie würde vielleicht umfallen. Das wollte er nicht; andererseits konnte sie ja wieder aufstehen.
Er musste jetzt gehen. Entschlossen legte er beide Hände auf den Schieber.
„Ich lasse den Herrn rasch raus“ sagte die Frau. Sie zog den Einkaufswagen von der Kasse weg, als hätte sie schon bezahlt. Er folgte dem Wagen und drückte sich an ihr vorbei, ohne sie anzusehen und ohne sie zu berühren. So schnell er konnte, schritt er in Richtung Ausgang. Fast wäre er gegen die Glastür gelaufen - nur ein angeklebtes Schild mit den Öffnungszeiten ließ ihn realisieren, dass er warten musste, bis sie sich automatisch öffnete.
Draußen strich kühle Luft um seine Wangen. Er atmete tief ein und aus. Er war wieder frei! Er fühlte sich so erleichtert, dass er am liebsten nach Hause gerannt wäre. Doch dann hielt er inne: Der Tee!
Sein Herz sank. Wo sollte er bloß in Zukunft einkaufen?
Frauke betrachtete fasziniert die großen Fotografien an der Wand. Sie wurde aus Bender nicht schlau. Die Bilder zeigten Menschen in Afrika. Es waren keine professionellen Aufnahmen; einige waren etwas unscharf. Wieso hatte er diese Fotos im Schlafzimmer hängen?
Im Arbeitszimmer waren eingerahmte alte Fotos, die wahrscheinlich Benders Großeltern und Urgroßeltern zeigten. Und zwei oder drei Bilder von einem Skiurlaub; junge Männer, die einander die Arme um die Schultern gelegt hatten und in die Kamera strahlten. Sie glaubte darauf Bender zu erkennen - mit helleren Haaren als heute und einem Vollbart, der auf dem Foto aussah als sei er rötlich. Gut, dass er sich den abrasiert hatte!
Im restlichen Haus hing kein einziges Bild. Die weiße Raufaser-Tapete und der hellgraue Fliesenboden wirkten kühl, die Einrichtung war nüchtern, die Küche funktional, aber ohne Charme.
Umso erstaunter war sie gewesen, als sie zum ersten Mal sein Arbeitszimmer betreten hatte. Dort lag Parkett, durch einen Perser veredelt, und die Möbel waren aus Erlenholz. Ein großer Schreibtisch, ein Bürostuhl und eine Bücherwand mit hunderten von Büchern.
Hatte Bender selbst das so eingerichtet? Es waren neue Möbel, keine Erbstücke. Frauke bekam diesen Raum und den Rest des Hauses nicht zusammen.
Sie sollte auch das Arbeitszimmer komplett saubermachen, und das verwunderte sie. Männer waren ihrer Erfahrung nach eigen mit ihrem Schreibtisch, oder vielmehr mit dem, was sie darauf herumliegen ließen. Fremde Schreibtische luden zum Stöbern ein.
Medizinische Unterlagen hatte sie bisher nie gesehen; Bender bewahrte sensible Daten offenbar in einem abschließbaren Hängeregister-Schrank im Abstellraum auf. Oder waren sie gar nicht im Haus, sondern in seiner Praxis?
Auf dem Schreibtisch lagen manchmal Kataloge und Briefe, Werbegeschenke oder To-do-Listen. Sie achtete penibel darauf, alles wieder so hinzulegen, wie sie es vorfand. Normalerweise hätte sie schon gerne überflogen, was auf den Zetteln und Listen so stand. Aber sie beherrschte sich und schlug kein Buch, keinen Katalog auf.
Wer wusste schon, ob er nicht etwas präpariert hatte, um sie zu testen?
Der Job bei Bender war ein großer Glücksfall und sie wollte ihn auf keinen Fall riskieren, nur weil sie in den monatlichen Rundbrief des Rotary Clubs reingeschaut hatte, der sie ohnehin nicht interessierte.
Er musste ziemlich gut verdienen. Sie hatte seine Homepage besucht, als klar war, dass sie bei ihm arbeiten würde. Die Praxis war seriös; sein Schwerpunkt schien auf Schönheits-und Handchirurgie zu liegen, aber auch Arbeitsunfälle waren in der Liste der Dienstleistungen angeführt.
Verheiratet war er nicht, aber vielleicht mit jemandem liiert? Im Badezimmer waren keine Utensilien, die auf eine Frau hinwiesen. Ihn selbst sah sie kaum einmal, da sie vormittags arbeitete. Wenn er sie sprechen wollte, befestigte er einen Zettel am Kühlschrank und bestellte sie zu einer bestimmten Uhrzeit ein, so hatte er es mit ihr vereinbart.
Sie konnte nicht sagen, ob er ihr sympathisch war. Er war sachlich und etwas arrogant. Er sah gut aus, ging ins Sportstudio und achtete auf seine Figur. Die Sachen im Kühlschrank waren Bio.
Ob er schwul war? Frauke nahm Bettwäsche aus einem Flurschrank und betrat das Schlafzimmer, um das Bett frisch zu beziehen. Es ging sie nichts an. Und es war im Grunde ja auch völlig egal.
Maren Kettler hatte die drei Mädchen zu sich nach Hause eingeladen. Sie hätten sich auch im Gemeindehaus treffen können, aber Maren teilte das Büro mit der Pfarrsekretärin, die sich nicht immer an ihre Sprechzeiten hielt, vor allem, wenn vor den kirchlichen Feiertagen viel zu tun war. Dann machte sie Überstunden.
Außerdem schneite Pfarrer Keller herein, wenn er etwas kopieren oder in der Mitgliederkartei nachsehen musste. Er war zwar immer sehr freundlich, aber sie fühlte sich trotzdem beobachtet.
Zu ihren Eltern hatte sie nie wieder jemanden mitgenommen, seit sie einmal ein Treffen des Kindergottesdienst-Teams zuhause abgehalten hatte. Beide Eltern waren neugierig und aufdringlich. Sie scheuten sich nicht, Vorschläge zu machen, wie: „Wollt ihr nicht lieber Tee trinken, Cola ist doch so ungesund.“
Das war ihr dermaßen peinlich gewesen, dass sie sich geschworen hatte, Arbeitstreffen nur noch in der Gemeinde abzuhalten. Pfarrer Keller trank wenigstens selber Cola.
Fraukes kleine Einliegerwohnung mit der Wohnküche war wie geschaffen für Teamtreffen, bei denen man auch mal über Persönliches reden wollte. Sabine, Klara und Steffi waren schon in Ausbildung, aber sie kannten noch viele der jüngeren Schüler.
Sie waren eine unschätzbare Hilfe in der Jugendarbeit der Gemeinde. Maren konnte sich glücklich schätzen, die drei zu haben. Zumal sie nicht wegen eines Studiums von Wetzlar weggehen würden wie so viele andere patente Mitarbeiterinnen vor ihnen.
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