„Glaubt bloß nicht, dass zwei Kinder zu haben fast dasselbe ist, wie ein Kind zu haben!“ hatten sie den Freunden erzählt.
Er hatte eine Zeitlang nicht trainiert und war immer grantiger und unzufriedener geworden. Da hatte Jens ihm von dem nachgemachten Schlüssel zur Mansarde erzählt und vorgeschlagen, er solle doch sein Ding durchziehen, ohne es ihr zu sagen. Wozu den Beziehungsstress auf sich nehmen, wenn es auch anders ging?
Im Dezember hatte er angefangen und es hatte wunderbar geklappt. Bis auf die Kälte, natürlich. Aber wenigstens waren Schnee und Eis kein Problem - wenn man vorsichtig war, konnte man darauf laufen. Er hatte durchgehalten. Jetzt, im April, war es schon lange hell, wenn er startete. Es war morgens angenehm kühl und seine Kondition war spitze.
Sein größter Wunsch war, einmal eine längere Kletter-Tour zu machen. Das musste er sorgfältig einfädeln, damit Jule keinen Verdacht schöpfte.
Gehring verließ das Haus, bevor seine Frau aufgestanden war. Sie musste um halb sieben in die Gänge kommen, wenn Merle pünktlich um 8 in der Schule sein sollte. Bis dahin würde er schon die ersten 6 km absolviert haben.
Adam Pröll nahm das gelbe Geschirrtuch und trocknete damit den Teller, die Tasse, die Untertasse und das Messer sorgfältig ab. Er räumte die Frühstücksutensilien wieder in den Schrank. Die Tageszeitung wanderte in seinen schwarzen Rucksack. Er kontrollierte, ob in der Vordertasche genügend Taschentücher waren.
Den Laptop hatte er am Abend zuvor bereits in das Hauptfach gelegt. Er hatte ihn noch nie auf der Arbeit gebraucht, aber wer konnte garantieren, dass der Computer in der Firma nicht ausfiel? Falls das passierte, konnte er weiterarbeiten. Er würde dann nicht im Aufenthaltsraum oder im Bistro um die Ecke warten müssen, bis das Problem behoben war.
Jedes Warten war für ihn schwer. Manchmal konnte er den Frust nicht aushalten, sich selbst nicht mehr beherrschen und kickte dann gegen eine Tür oder warf einen Stuhl um. Natürlich ärgerte er sich hinterher über sich selbst. Wenn zum Warten aber noch die Unruhe und Hektik an einem Ort wie dem Bistro dazukam, dann bekam er oft die Panik. Dort zu warten würde er nicht schaffen. Deshalb war es besser, gerüstet zu sein.
Zufrieden schloss er den Rucksack. Den Mittagsimbiss um 12:30 Uhr würde er in der Kantine seiner Firma namens GenAutark einnehmen. Es bestand aus einem Weizenbrötchen mit Ziegenkäse und weißem Joghurt. Das Abendessen aß er zuhause; seine Mutter kochte es.
Heute Abend würde es um 19 Uhr auf dem Tisch stehen. Gestern hatten sie um 18:30 Uhr gegessen, weil seine Mutter um 19 Uhr in der Chorprobe sein musste. Morgen würden sie auch um 19 Uhr essen. Übermorgen war Wochenende; da galten andere Regeln.
Pröll beeilte sich, seine Schuhe anzuziehen und den Mantel über den Arm zu hängen. Zu Fuß brauchte er von seiner Wohnung in der Rehornstraße bis zur Firma 38 Minuten, außer er überquerte die Kreuzung Südstraße/Maibachstraße nach 10 Uhr 15. Dann änderte sich die Ampelschaltung und er brauchte insgesamt 40,5 Minuten.
Er überquerte die Kreuzung zwar nie nach 10 Uhr 15, aber es war gut, die Fakten zu kennen. Für alle Fälle.
Es war nicht angenehm zu laufen, weil die anderen Fußgänger unberechenbar waren. Sie versperrten ihm den Weg, wenn sie langsamer liefen als er. Sie erschreckten ihn, wenn sie schneller waren und ihn überholten.
Aber im Bus zu fahren war keine Alternative. Er hatte nie eine Sitzreihe für sich alleine. Immer setzte sich jemand neben ihn und berührte ihn am Arm oder streifte sein Bein. Er wusste dann nicht zu reagieren; wusste nicht, ob er sich beispielsweise entschuldigen musste oder nicht. Seine Mutter hatte versucht, es ihm beizubringen, aber es war ihm ein Rätsel, wie man in wenigen Sekunden so eine Entscheidung treffen konnte.
Pröll schlug den kürzesten Weg zur Firma GenAutark ein. Der Pförtner blickte kurz auf, nickte und vertiefte sich dann wieder in sein Buch. Pröll nahm die Treppe in den dritten Stock.
Sein Büro war das kleinste auf der Etage, aber es lag am Ende des langen Ganges und war deswegen ruhig, das schätzte er. Die Teeküche und die Toiletten waren zum Glück auf der entgegengesetzten Seite.
Er setzte sich, fuhr seinen Computer hoch und rief den Vorgang auf, den er gestern zuletzt bearbeitet hatte. Seine Aufgabe war es, Programmierfehler zu kennzeichnen. Das war leicht.
Die Morgensonne malte ein Muster auf die Wand neben ihm. Er stand auf und ging zum Fenster. Der Raum war vollklimatisiert, ein Öffnen war nicht möglich. Für einen Augenblick hielt er sein Gesicht dem Licht entgegen und schloss die Augen. Die Helligkeit der Sonne auf seinen Augenlidern forderte seine volle Konzentration.
Dann drückte er auf den Knopf, der die Sonnenblende herunterkommen ließ. Der Raum wurde in diffuses Halbdunkel getaucht.
Er schaltete das Deckenlicht ein und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Möglicherweise würde er in den nächsten zwei Stunden seine Sitzhaltung nicht verändern. Wenn er sehr vertieft war in das, was er tat, konnte das passieren. Er wusste, dass ihm dann der Rücken so weh tun würde, dass er es kaum schaffte, aus seinem Stuhl aufzustehen.
„Ach, verdammt!“
Frauke richtete den Wassereimer schnell wieder auf; ein kleiner Rest war übrig, der größte Teil des Putzwassers hatte sich jedoch über den Teppich ergossen. Sie nahm das Bodentuch und versuchte, den Schaden wieder gutzumachen.
Es war einer dieser Tage.
Um drei Uhr morgens war sie durch betrunkene Randalierer wach geworden, die sich laut unter ihrem Fenster unterhalten hatten. Danach konnte sie nicht mehr einschlafen.
Als sie den Kaffee übergossen hatte, stieß sie gegen den Filter und er fiel auf den Boden; die dunkelbraunen Spritzer bildeten ein unregelmäßiges Muster auf dem abgetretenen Linoleum und dem karamellfarbenen Unterschrank.
Schließlich hatte sie festgestellt, dass die Wasserspülung in der Gästetoilette unaufhörlich lief. Sie hatte die Wasserzuleitung abstellen müssen, was bedeutete, dass man sie jetzt auf-und zudrehen musste, wenn man die Toilette benutzen wollte.
Wenn diese Wohnung leergeräumt und verkauft ist, werde ich mich sinnlos betrinken vor lauter Erleichterung .
Sie ging ins Wohnzimmer und räumte die Aktenordner, die sie durchsehen musste, auf die Seite. Der Rest des Hausrats konnte in den Müll. Sie begann, Umzugskartons auseinanderzufalten und nebeneinander aufzustellen. Sie würde den Kram in den Kisten zwischenlagern.
Als sie gestern das Wohn- und das Schlafzimmer der Eltern gesichtet hatte, war ihr klargeworden, dass sie einen Container bestellen musste. Den ursprünglichen Plan, die Haushaltssachen und Bücher nach und nach im Restmüll zu entsorgen, hatte sie sofort wieder aufgegeben. Das würde Monate in Anspruch nehmen, mal ganz abgesehen von den Beschwerden der Nachbarn, die es nach sich ziehen würde.
Malte hatte angeboten, das günstigste Angebot der Entsorgung für sie herauszufinden und hatte ihr wenige Stunden später bereits einen Link geschickt. Sie hatte den kleinsten Container bestellt, den es gab und sich gleichzeitig gefragt, wovon sie das eigentlich bezahlen wollte. Klar - wenn die Wohnung verkauft war, bekam sie diese Auslage ersetzt, aber bis dahin?
Dann fielen ihr die Scheine im Keller ein. Zur Not konnte sie vielleicht von dem Geld etwas nehmen?
Ihre Geschwister interessierten sich nicht dafür, wovon sie die Wohnungsauflösung bezahlte. Oder ihren Lebensunterhalt. Die kümmerten sich nur um ihre eigenen Probleme.
Es war schon praktisch, eine kleine Rücklage zu haben.
‚ Klein’ ist gut…
Andererseits hatte sie kein gutes Gefühl bei dem Gedanken, sich bei dem Geld zu bedienen. Es sollte lieber zusammenbleiben. Irgendwann würde jemand vor ihr stehen und es zurückfordern.
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