„Komm rein“, sagte er missmutig durch die geschlossene Tür. Es ärgerte ihn, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde.
Leise wurde die Tür geöffnet und Sundãri, seine jüngere Schwester, trat in das Turmzimmer. Obwohl sich ihre Mimik kein bisschen veränderte, schien ihr Gesicht zu strahlen, als sie sich durch den schmalen Eingang duckte und schließlich aufblickte. Ihre schwarzen, gewellten Haare hatte sie am Hinterkopf locker mit einer Spange zusammengefasst, ihre Lippen glänzten purpurn. Ihre schlanke Figur steckte in einer engen Korsage und einem bodenlangen Rock, der an Oberschenkeln und Hüften eng saß und auf Höhe der Knie ihre Beine umspielte und in einer langen Schleppe endete. Er war so lang, dass man ihre Füße nicht sah und es den Anschein hatte, als würde sie über den Boden schweben.
„Du siehst furchtbar aus, Zeno! Wie lange bist du schon hier?“
Ihr Bruder zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht. Lange hatte er hier gestanden und versucht erneut eine Verbindung herzustellen, doch vorerst war es ihm nicht gelungen. Vergeblich hatte er sich konzentriert und seine Gedanken in die Ferne schweifen lassen. Aber er würde nicht aufgeben, er würde es so bald wie möglich wieder versuchen.
Seine Schwester war eine so schöne Frau. Ihr Gesicht hatte die perfekte Symmetrie und war das, was man als objektiv „schön“ bezeichnen konnte. Ihre Haare hatten diesen seidigen Glanz, den sonst nur Frauen erreichten, die ihr halbes Leben in die Pflege ihrer Haare investierten oder jemand hatten, der das für sie tat. Sie hatte das aber nicht nötig. Und sie war das Ebenbild ihrer Mutter. Baldur hatte kaum noch Erinnerungen an sie, wenn er aber Sundãri anblickte, erinnerte er sich daran, wie sie ihn immer angeblickt hatte, bevor sie ihm ihre weiße Hand auf die Wange legte. Sobald sie aber zu sprechen begann, wusste er, dass bloß seine Schwester vor ihm stand. Denn sie besaß nicht die weiche, melodische Stimme seiner Mutter. Sondern eine härtere, deren Tonfall man die Entbehrungen und den Schmerz sogleich anhörte, die Sundãri seit ihrer Kindheit erleben musste. Stets hatte ihre Stimme etwas Vorwurfsvolles. Verübeln konnte er es ihr nicht. Wahrscheinlich lag es an der großen Ähnlichkeit zu ihrer Mutter, dass ihr Vater seine jüngste Tochter immer anders behandelt hatte als seine anderen Kinder. Und zwar deutlich schlechter.
„Wir müssen jetzt. Die Pflicht ruft“, sie riss ihn abermals aus seinen Gedanken und auch jetzt lag wieder einmal ein Vorwurf in ihrer Stimmlage.
Blut. Das eines Menschen. Segen und Fluch zugleich. Ein Segen, zu spüren, wie es ist zu leben, ein Herz zu haben, das schlägt und nicht starr ist wie Eis. Eines, das dieses lebensspendende Elixier durch den Körper pumpt. Das Trinken menschlichen Bluts ermöglichte ihren erstarrten Herzen noch einmal zu schlagen, für kurze Zeit. Es schenkte ihnen immense Kraft und Stärke. Ein Fluch, denn es rief ihnen ins Bewusstsein, welchen Preis sie für ihr Dasein zahlen müssen. Einen Preis, den einige allzu gern zahlen, andere weniger. Die Nacht des Blutkelches brachte diesen Segen und Fluch. Es war ein Ritual, bei dem sie gemeinsam eine Art Wiedergeburt erlebten. In seinem Ursprung wurde dafür ein hübsches Mädchen der Tänner geraubt und auf ihrem Altar geopfert. Sie wurde dort zur Ader gelassen und ihr Blut in einem Kelch aufgefangen, bis es versiegt war. Anschließend wurde der Kelch unter ihnen weiter gereicht, bis er auf den letzten Tropfen ausgetrunken worden war. im Laufe der Zeit und durch das Wachstum ihres Volkes war aus dem ehrerbietigen Ritual immer mehr ein Blutbad geworden. Einmal, während der Zeit, als sie kaum das Felsengebirge verlassen konnten, war ihnen nach einer gefühlten Ewigkeit mal wieder eine Nacht des Blutkelchs möglich. Der Fürst war von seinem Aufenthalt in Kapitall zurück gekehrt und hatte ein junges, wunderschönes rotblondes Mädchen mitgebracht. Alle hatten gespannt auf den Augenblick gewartet und als der Fürst das Ritual endlich beginnen wollte, waren einige aus den hinteren Reihen zum Altar gestürmt und hatten auf das Mädchen mit ihren Dolchen eingestochen. Ihr Blut war über den Stein hinweg die Treppen nach unten geflossen und hatte alle in einen regelrechten Blutrausch versetzt. Seitdem war die Menge in diesen Nächten kaum zu bändigen. Der Fürst, dem dieses Ritual und dessen Ehrerbietung äußerst wichtig war, hatte daraufhin Männer ausgewählt und diese als Wächter ausgebildet, deren Aufgabe darin bestand, die Menge im Zaum zu halten und im Notfall auch mit Gewalt einzugreifen.
Nun war es wieder einmal so weit und dieses Mal sollte Zeno in Abwesenheit des Fürsten die Nacht des Blutkelchs durchführen. Und es lastete auf ihm wie eine schwere Bürde. Er erinnerte sich leider noch allzu genau. An die Tage, nachdem sein Herz für immer zu schlagen aufgehört hatte. Die erste Zeit ist nicht die schlimmste. Oh nein, wer sagt, es werde mit der Zeit besser, der hat nicht erlebt, was er durchmachen musste. Am Anfang ist man vielmehr in einer Art Rausch. Du fühlst dich stark, unbesiegbar. Dein Kopf ist so klar, wie noch nie in deinem Leben. Deine Gedanken und Gefühle werden nicht mehr gelenkt noch abgelenkt durch das dumpfe, aber deutlich spürbare Schlagen des Herzens in stupider Regelmäßigkeit. Du kannst dich besser konzentrieren, musst keine Angst haben um dein Leben, wenn du dich in waghalsige Abenteuer stürzt. Doch irgendwann ist diese Euphorie vorbei. Und deine Gedanken richten sich unvermeidlich auf die Bedeutung dessen, was dir widerfahren ist. Dein Herz, das wichtigste Organ, funktioniert nicht mehr, hat seinen Dienst eingestellt. Und du beginnst dich zu fragen, wie es mit dir dann weiter gehen soll. Denn „Leben“ kannst du dein Dasein nun nicht mehr nennen. Das einzige, was dir geblieben ist, ist dein Geist, deine Seele. Die Zeit vergeht und mit jeder Sekunde, die verstreicht, spürst du deutlicher den Schmerz in deiner Brust. Ein Schmerz, der eigentlich nicht da sein dürfte. Aber er ist da. Denn dein Körper meint, er müsse noch leben und in dieser Konsequenz müsse das Herz schlagen. Doch das tut es nicht, denn es ist kein Blut da, das es durch den Körper pumpen könnte. Es fühlt sich an wie ein Krampf, ein ständiger, wiederkehrender Schmerz. Und diesem Schmerz würden sie heute Nacht nachgeben, für einen unbestimmbaren Moment stillen.
In düsterer Stimmung trat Zeno hinaus auf den Balkon.
Der große Saal war ungefähr 60 bis 70 Meter hoch. Die Decke erstreckte sich in einer schwindelerregenden Spirale nach oben und ließ ihn dadurch unendlich in seiner Höhe erscheinen. In den unzähligen Nischen brannten Kerzen, deren Flackern den höhlenähnlichen Raum in sanftes Licht tauchte. Doch sorgten diese auch dafür, dass gespenstische Schatten auf den steinernen Wänden hin und her tanzten.
Sie hatten sich um einen schwarzen Altar versammelt. Er war mit dunkelroten und schwarzen Kissen gepolstert und vier hohe Lüster standen jeweils an einer der vier Ecken. Die Flammen züngelten bereits hoch und Wachs tropfte auf den Boden hinab. Eine schlanke, weiße Gestalt, nur in einen weiten, hellen Umhang gehüllt, lag auf dem Altar. An Händen und Fußgelenken trug sie eiserne Fesseln, deren Ketten an den Seiten des Steins fest gemacht waren.
Die Umstehenden trugen lange schwarze Gewänder und hatten die dunklen Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, so dass sie im Schatten lagen und ihre Züge verborgen blieben. Wie in Trance warteten sie nebeneinander, sich fast unmerklich hin und her wiegend. Eine deutlich spürbare Anspannung lag im Raum.
Als endlich einer zur Empore hinaufblickte und Zeno dort stehen sah, ging plötzlich ein erwartungsvolles Raunen durch die Menge. Die Gestalt, die dem Altar am nächsten stand, gab ein Zeichen und von irgendwoher erklang sanft Musik. Er stieg auf die Brüstung der Empore und ließ sich von dort nach unten fallen. Die Menge machte ihm Platz, so dass er leichtfüßig zwischen ihnen landen konnte. Als einziger trug er keinen schwarzen Umhang, sondern nur lederne Hosen und ein fast durchsichtiges Hemd. Er wusste, dass sie ihn nicht nur anstarrten, weil er einer der Anführer war, sondern weil er eine große charismatische, erotische Ausstrahlung besaß und eine ausnehmende Attraktivität. Erhobenen Kopfes lief er zu dem grauen Stein und betrachtete die Gestalt, die dort gefesselt lag. Er war bereit, die unliebsame Pflicht zu erfüllen. Mit vor Angst geweiteten, blauen Augen starrte sie ihn an. Sie war höchstens sechzehn Jahre alt, ihre dunkelblonden Locken fielen ihr bis auf den Rücken hinunter und ihr Körper war wohlgeformt, das konnte er selbst durch den Stoff hindurch erahnen. Langsam beugte er sich über sie, zog an der Schleife des Gewandes und entblößte ihren nackten Körper. Erfreutes Gemurmel war um ihn herum zu hören. Erotik, sexuelle Leidenschaft und Begierde waren eine der wenigen Freuden seines Volkes.
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