Alessandra trug damals keine Rüstung, nur leichte Hosen aus Leder und ein weißes Hemd, das unter der Brust geschnürt war. Finnroth war zwar selbst auch nicht durch eine Rüstung geschützt, aber er war ja schließlich ein Mann und ein geübter Schwertkämpfer. Doch was ihm noch eindrucksvoller in Erinnerung geblieben war, betraf ihre äußere Erscheinung. Es waren ihre dichten, dunklen Locken, durchzogen von weißen Strähnen und ihre grünen Augen, die an dunkle Tannenwälder erinnerten und in der Sonne rotbraun glänzten.
Für ihn war Alessandra die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Ihr Gesicht entsprach zwar nicht den Maßstäben einer perfekten Form. Ihre Augen standen ein wenig zu nah, ihre Nase war vielleicht ein bisschen zu groß und ihre Lippen zu schmal, um sie als sinnlich zu bezeichnen. In allem unterschied es sich von dem seiner Schwester Aleta. Sie hatte große Augen mit dichten Wimpern, eine kleine Stupsnase und volle Lippen. Ihr engelsgleiches Gesicht wurde von blonden Locken umrahmt. Dennoch hatte sie keine minder große Ausstrahlung, bloß auf eine andere Art und Weise.
Als Finnroth sie auf dem Ball wieder sah, entsprach sie optisch nur noch mehr seinen Vorstellungen. Ihr wunderschönes Kleid setzte ihre schlanke, sehnige Figur bestens in Szene. Ja, Finnroth musste es zugeben, er wollte die Prinzessin aus dem Land der Wölfe zu seiner Frau machen. Bei seiner Rückkehr würde er sofort seiner Mutter von den Plänen erzählen.
Unruhig mit großen Schritten lief er wie ein eingesperrtes Tier in seinem Gemach hoch oben im Nordturm umher. Immer wieder blieb er vor einem der vier großen Fenster stehen, die bis auf den steinernen Boden reichten und einen atemberaubenden Blick auf Berge und Tal erlaubten. Trotz des eisigen Windes und den Schneeflocken, die dieser vor sich hertrieb, standen die Fenster weit offen und kühlten die Luft in dem Raum auf eiskalte Temperaturen ab. Nach einiger Zeit schaute ein menschliches Gesicht durch das Fenster hinein. Allerdings kopfüber. Ein kurzes Zögern, dann ließ er sich in einer blitzschnellen, kaum wahrnehmbaren Bewegung nach unten gleiten und landete geschmeidig auf seinen Füßen.
„Ich störe Euch nur ungern“, entschuldigte er sein ungebetenes Eintreten, „der Rat wartet jedoch schon länger auf Euch.“
Er hielt unmittelbar in seinen Schritten inne und funkelte den Eindringling aus blutroten Augen an.
„Dann soll er warten. Ich habe noch keine Entscheidung getroffen“, seine Stimme war tief, der Tonfall drohend. „Ich muss erst einmal zurück nach Kapitall. Es warten Pflichten und Arbeit dort auf mich.“
„Der Rat wird es nicht gut heißen, wenn Ihr schon wieder nach Kapitall...“
„Schweig!“
Demütig senkte er sein Haupt und ging vor dem Anführer auf die Knie.
„Verzeiht meine Offenheit, Sire...“
„Der Rat wird es akzeptieren müssen. Solange ich weg bin, wird Zeno für mich alle Entscheidungen treffen.“
Missbilligend blickte er auf den Secundarius hinunter und schickte ihn daraufhin mit einer barschen Handbewegung hinaus. Er konnte diese Anhänger zweiter Riege nicht leiden und noch weniger in seiner Gegenwart ertragen. Sie hatten nicht den Schneid wie seinesgleichen, nicht den Drang zum Herrschen und die unbändige Leidenschaft, die in ihm wohnte. Sie waren meist unterwürfig, unselbstständig, aber besserwisserisch. Vor allem in Situationen, in denen es um Gehorsam ging. Er war der Fürst. Er hatte nicht gehorsam zu sein. Man musste IHM Gehorsam schulden.
Aber er wusste selbst nur zu gut, dass die Zeit drängte. Je länger sie warteten, desto größer wurde die Gefahr, dass ihr Plan entdeckt wurde. Viele Jahre hindurch hatten sie es bislang geschafft, sich und ihre Pläne vor den anderen zu verbergen. Die übrigen Völker hatten nur sehr vage Vermutungen über ihr Tun. Und das war gut so. Wüssten sie Bescheid, hätte man ziemlich schnell beschlossen, dass sie eine Gefahr darstellten. Das war schon einmal geschehen. Vor vielen Jahren. Und dann wurde dieser unsinnige Vertrag geschlossen. Pech für sie. Er hatte Wege gefunden, diesen zu umgehen.
Die wenigen, die in der letzten Zeit die Wahrheit herausgefunden hatten, waren nicht mehr am Leben. Und deren Verschwinden war leicht darauf zurück zu führen, dass sie sich in diese unwirtliche Gegend verirrt hatten und zu Tode gekommen waren. Nur allzu leicht konnte man von einem der steilen, glatten Felsen hinunterstürzen. Oder sie hatten im Eisfall den Tod gefunden. Leicht wären Erklärungen für das plötzliche Verschwinden dieser Verirrten gefunden worden. Das stützte natürlich auch die Angst, die überall vor dem Felsengebirge und dem Eisfall herrschte. Freiwillig begab sich niemand jenseits der nördlichen nordischen Wälder. Somit hatte nur selten jemand ihre Ruhe hier oben im Gebirge gestört.
Doch um ihren Plan verwirklichen zu können, mussten sie sich immer öfter in der Öffentlichkeit zeigen und so würde über kurz oder lang die Neugier der anderen zu groß werden. Es würden Nachforschungen angestellt und irgendwann würde alles ans Licht kommen. Früher als gewünscht. Und das musste er verhindern.
Letztlich ging es um Macht, um was auch sonst. Darum ging es doch immer. Wer die Macht hatte, wer die Macht haben wollte und wer die Macht verdiente. Und er verdiente die Macht. Wenn nicht er und seinesgleichen, wer sollte sie sonst verdienen. Denn sie waren den anderen in so Vielem überlegen und durch ihre Macht konnten alle nur profitieren. Was er alles erreicht hatte, reichte über die Vorstellungskraft der anderen weit hinaus. Er war stolz, ehrgeizig, entschlossen, er verfügte über ein abnormes Wissen und das machte ihn überlegen. Doch einfach würde es trotzdem nicht werden, das war ihnen bewusst. Die anderen hatten Angst vor dem, was sie waren und was sie nicht verstanden, vor dem, was sie taten und was sie erreichen wollten. Er kannte es, hatte es früher in den Augen derer gesehen, denen er begegnet war und die sein Schicksal kannten. Zunächst hatte es ihn frustriert, denn dadurch konnte er kaum Freunde finden, weil diejenigen, die sein Geheimnis kannten und nicht zu ihm standen, mussten sterben, damit sie ihn nicht verraten konnten. Dazwischen war er verzweifelt. Der Tod begleitete ihn ständig als zwangsläufige Konsequenz für sein Dasein. Doch schließlich bereitete es ihm Genugtuung, ihnen für ihr Unverständnis und ihre Verurteilung das Leben zu nehmen. Es war ihm ein abscheuliches Vergnügen ihnen seine Überlegenheit zu demonstrieren. Im Laufe der Zeit waren seine Anhänger immer mehr geworden und er beherrschte nun zusammen mit seinen Kindern ein stattliches Volk.
Trotzdem ... er war nicht glücklich. Nicht unter seinesgleichen. Nicht solange es jene gab, die anders waren als er und die ihn als anders empfanden. Das war das einzige, was seine Existenz trübte und warum er sie manchmal leid wurde.
Doch er hatte Hoffnung...
Sein Hoffen lag in ihr.
Er hatte schon viele Gefährtinnen gehabt, doch keine hatte ihn zufrieden stellen können. Denn sie waren es stets aus den falschen Gründen gewesen. Sie hatten sich ihm hingegeben, weil er einer ihrer Anführer war oder weil es ihnen befohlen wurde oder weil sie sich erhofften, dadurch ihr Leben retten zu können. Irgendwann hatte er es aufgegeben und war nachts losgezogen, um sich aus den anderen Völker Mädchen auszusuchen, die ihm gefielen und die er dann zu seiner Gefährtin machte. Die Letzte, die er zu sich geholt hatte, hatte sich schließlich von den Zinnen der Burg gestürzt. Sollte es für ihn kein dauerhaftes Verhältnis geben? War es aufgrund seiner abnormen Existenz gar nicht möglich, eine normale Beziehung zu führen? Doch endlich hatte er sie getroffen und sofort gewusst, sie war stark genug, seine Gefährtin zu sein. Sie gab ihm die Hoffnung, die er brauchte.
Plötzlich fuhr er herum. Er hatte sie kommen hören, bevor sie an die Tür klopfen konnte.
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