Maik hat unterdessen die Schwalbe aus dem Karton herausgenommen. Der Griff, mit dem er sie in einer Hand festhält, wirkt – genau wie ich es erwartet habe – äußerst professionell. Mit der anderen untersucht er vorsichtig den lädierten Flügel. Das Tier verhält sich immer noch erstaunlich ruhig. Ich habe dein Eindruck, als bestünde zwischen dem Mann und dem Vogel eine Übereinkunft. Gerade als ich ansetzen will, um nach den Möglichkeiten zu fragen, dem Tier zu helfen, verändert sich der Griff von Maiks Hand um den Körper des Tieres. Er drückt blitzschnell zu und unterstützt seine Handlung noch mit der anderen Hand, die sich um den Hals des Vogels legt und ebenfalls zupresst. Das ganze dauert nur ein paar Sekunden, dem Tier bleibt nicht einmal mehr Zeit, einen Laut von sich zu geben.
Mein Herz überschlägt sich und das Bild vor mir beginnt sich radikal zu fokussieren, auf den Mann, der neben mir steht und den toten Vogel in seinen Händen hält. Ich blicke ihn an, unfähig, auch nur ein Wort zu formulieren. Er dreht sein Gesicht zu mir und schaut mir direkt in die Augen. Die Härte, die mich in diesem Moment fast physisch anspringt, lässt mich schwindeln. Ich ringe nach Luft, stolpere rückwärts und nehme hastig die kurze Strecke zur Tür. In der Dunkelheit des Flures stoße ich gegen die Kommode voller Frösche. Entfernt nehme ich wahr, dass einige von ihnen umfallen, irgendwo zersplittert Glas. Meine Hand greift nach der Haustür, ich falle fast die Eingangsstufen hinab. Dann beginne ich zu rennen.
„Scheiße!“
Ich trete mit Wucht gegen den Korb voller Äste und Holzscheite, der neben dem Kamin im Wohnzimmer steht. Mit einem heftigen Ruck rutscht er ein Stück über den Boden und hinterlässt eine Spur an kleinteiligen Holzabfällen. Mein rechter großer Zeh rächt meinen Wutausbruch sofort mit pochenden Schmerzen. Seufzend knie ich mich vor die Kaminluke und blicke durch die verrußte Scheibe ins Innere. Das Feuer, das soeben noch verheißungsvoll züngelte, ist erneut ausgegangen. Das Holzscheit, das jetzt, nachdem die Flammen Papier, Äste und Tannenzapfen gierig verschlungen haben, völlig nackt und verloren auf dem Aschegitter liegt, produziert nur noch Qualm.
Bevor ich die Luke öffne, stelle ich alles auf Durchzug. Trotzdem schlägt mir sofort eine beißende Rauchwolke entgegen. Mit der rechten Hand, die in einem Kaminhandschuh steckt, greife ich nach dem Scheit und hebe es auf. Hastig laufe ich zur Balkontür, öffne sie und werfe das Stück Brennholz auf die Holzplanken der Veranda. Als ich die Tür wieder schließen will, bleibt mein Blick an etwas auf der anderen Straßenseite hängen. Jemand steht neben der Straßenlaterne, die dort an der Straßenkreuzung nachts verunsicherten Ortsfremden den Weg weist. Da ich aus meinem Blickwinkel nicht erkennen kann, wer es ist, verändere ich meine Position leicht, achte allerdings darauf, nicht zu auffällig nach draußen zu schauen. Ich ahne, wer da steht und als ich endlich volle Einsicht habe, weiß ich nicht, ob es Verärgerung oder Erschrecken ist, was in mich fährt.
Maik lehnt an der Laterne und schaut in meine Richtung. Unbeweglich, außer der Hand, die eine Zigarette zum Mund führt. Eigentlich ist er zu weit weg, als dass ich es wirklich sehen könnte – trotzdem bin ich mir sicher, dass er, während seine Augen mein Haus ins Visier nehmen, nicht einmal blinzelt. Ich entferne mich langsam, ohne Hast, von der Tür und damit aus Maiks Sichtfeld. Als ich sicher bin, dass er mich nicht mehr sehen kann, setze ich mich auf den Fußboden und lege beide Hände schützend vor mein Gesicht. Diese Begrenzung hilft mir, meinen Atem zu spüren und drosselt ihn damit automatisch herunter. Mit wird warm. Ich fühle mich wie ein Tier in der Falle und habe keine Idee, wie ich dieser Ohnmacht begegnen soll. Also atme ich ruhig weiter und bleibe vorerst in meinem Versteck.
Irgendwann merke ich, wie sich aus meiner jämmerlichen Verzagtheit etwas herausschält, das ich ebenso gut kenne. Trotz. Steh auf, befehle ich mir selbst. Ich tue es, lasse meine Hände sinken und beginne, die Situation zu analysieren. Ich bin erwachsen, ich habe seine Nähe gesucht, trotz des Tattoos. Trotz dessen, was meinen Körper auch nach all der langen Zeit noch so stark reagieren lässt. Als mir dieser Gedanke durch den Kopf geht, bemerke ich, wie sich mein Trotz in Richtung Wut aufmacht. Ohne mir groß im Klaren über meinen nächsten Schritt zu sein, verlasse ich das Wohnzimmer, schlüpfe in meine Gartenschuhe und reiße die Haustüre auf. Ich bin bereit, loszubrüllen, wenn es sein muss, ihn zu beschimpfen oder sogar auf ihn einzuschlagen. Aber der Impuls, der mich so plötzlich gepackt hat, verpufft auf der Stelle, als ich sehe, dass die Straßenecke sich mir menschenleer präsentiert. Weg. Die Laterne steht wieder verlassen da, wie ein Mahnmal einer langsam verschwindenden Infrastruktur in einer sterbenden Gegend. Ich verharre, meine rechte Hand umklammert noch immer den Türgriff. Langsam löst sich die Anspannung. Was willst du? Meine Augen suchen die Fassade seines Hauses, als könnte mir von dort eine Antwort entgegenschallen.
Mein Blick löst sich von Maiks Haus und wandert erneut mein näheres Umfeld ab. Noch einmal muss ich mich vergewissern, dass ich wirklich alleine bin. Da entdecke ich vor mir auf dem Boden etwas, das meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein zusammengeschlagenes Taschentuch liegt vor meiner Tür, auf einer Seite mit einem kleinen Stein beschwert. Ich bücke mich und nehme den Stein auf. Dann schlage ich die eine Hälfte des Tuches zur Seite. Darunter finde ich, akkurat gerollt, eine selbstgedrehte Zigarette.
Ich postiere den weißen Plastikstuhl, den ich sonst nutze, um in der Abendsonne vor der Haustür zu sitzen, zwischen den zwei größten Robinien, die rund um unsere Sickergrube wachsen, leicht versteckt hinter dem dazwischen wachsenden Holunder. Die Stelle habe ich sorgfältig ausgewählt. Von hier aus habe ich jeden, der das Dorf per Auto verlässt, genau im Blick. Gleichzeitig bin ich selbst relativ gut geschützt und nur für jemanden zu erkennen, der langsam fährt und gezielt nach mir sucht. Nach welchem Auto ich Ausschau halten muss, weiß ich. Der dunkelblaue Skoda Roomster, den ich heute Morgen flüchtig beim Gang auf Maiks Haustür zu wahrgenommen habe, ist mir zum Glück in Erinnerung geblieben. Ausgestattet bin ich mit Buch und Thermoskanne. Schließlich kann es lange dauern. Und kalt werden. Wenn meine Rechnung überhaupt aufgeht. Ich stecke mir die Zigarette in den Mund, zünde sie an, schließe die Augen und lehne mich zurück. Nach zwei Zügen nähert sich mir von hinten ein Motorengeräusch. Sofort wendet sich mein Blick in Richtung Straße. Fehlalarm. Kein blauer Skoda Roomster. Ein roter Opel irgendwas. Na dann, ich habe Zeit. Nachdem ich die Zigarette aufgeraucht habe, nehme ich mein Buch und beginne zu lesen.
Drei Kapitel später ist es dann tatsächlich so weit. Ich will gerade aufstehen, um kurz hinter dem Schuppen zu pinkeln, als ich gerade noch rechtzeitig die Kastenform des Roomsters wahrnehme und mich ducke. Maik sitzt hinter dem Steuer, alleine. Weder seine Mutter noch der Hund sind zu sehen. Das Auto fährt zügig in Richtung Dorfausgang – nichts deutet in meinen Augen darauf hin, dass ich gesehen wurde. Ich stehe auf und mache mich auf den Weg.
Zügig laufe ich die Straße zum See entlang. Als ich an Maiks Haus ankomme, atme ich noch ein paarmal tief ein, bevor ich daran gehe, meinen Plan in die Tat umzusetzen.
Auch diesmal folgt meinem Klingeln sofort das wütende Bellen, das mir in Ton und Tempo nun schon vertraut ist. Zwischen meinem Klingeln und dem Moment, in dem die Tür sich vor mir öffnet, vergeht so wenig Zeit, dass ich mich überrumpelt fühlen könnte, wenn ich den Gedanken nicht sofort verdrängen würde. Diesmal muss ich mich nicht erst einer Musterung unterziehen lassen. Diesmal lächelt mich die Frau hinter der Tür sofort an, wenn auch weiterhin verhalten.
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