„Komm rein.“ Ich reiche ihm zuerst mein Paddel, welches er behutsam in sein Boot legt. Dann löse ich die Fangleine von meinem rechten Fußgelenk und stehe auf, wobei ich mir viel Zeit lasse, denn die Wellen werden immer stärker. Als ich einen kurzen Moment lang schwanke und es aussieht, als könne ich ins Wasser fallen, beugt er sich blitzschnell nach vorne und packt hart nach meinem Handgelenk. Mit einem Ruck holt er sowohl mich als auch sich selbst wieder in die Aufrechte zurück. Der Druck seiner Hand deutet mir an, in sein Boot zu klettern. Ich setze einen Fuß auf die Sitzbank und lasse mich von ihm nach oben ziehen. Plötzlich stehen wir dicht beieinander und die Wärme, die von seinem Körper ausstrahlt, erinnert mich daran, dass die Temperatur um mich herum in den vergangenen Minuten deutlich abgefallen ist. Ich bekomme eine Gänsehaut und trete schnell an ihm vorbei in die Mitte des Bootes. Unschlüssig schaue ich in Richtung des Brettes. „Ziehen?“ Automatisch habe ich mich seiner reduzierten Kommunikation angepasst. Das scheint ihn nicht zu stören. Im Gegenteil. Er nickt, kniet sich hinunter und greift nach der Fangleine. Ich nehme sie entgegen und setze mich in die meinem Brett nahe Ecke des Bootes. Er nimmt mir gegenüber Platz und beginnt, uns mithilfe seiner Ruder sachte durch das Schilf zu manövrieren. Rechts und links bietet sich kaum Platz zum Rudern, deshalb gleichen seine Bewegungen mehr denen eines Stocherkahnfahrers als denen eines Ruderes.
Da der Sommer seinem Ende zugeht, ist das Schilf bereits sehr hoch und dicht gewachsen. Für mich ist keine Schneise erkennbar, die mir einen Weg hindurch andeuten würde. Aber er scheint sehr genau zu wissen, in welche Richtung das Boot zu wenden ist. Es erstaunt mich, wie tief das Schilf hier im Wasser steht. Den Weg zum Ufer hätte ich mir kürzer vorgestellt. Ich wende mich um und hinter mir und dem Brett, das ich mit mir ziehe, hat sich die Pflanzenwand wieder geschlossen. Sehr schnell ist es dadurch noch dämmriger um uns geworden. Neben mir höre ich die Stimmen der zahlreichen Schilfbewohner, die sich selten zeigen, dafür aber umso lautstarker ihre Anwesenheit akustisch demonstrieren. Mein Blick wandert zum Himmel. Der Greifvogel über uns hat sich schon längst verzogen. An seiner statt fliegen nun Schwalben aus und sichern sich ihre Abendmahlzeit. Wie sie da so über unseren Köpfen vorbei huschen ahne ich, wie sie jenseits des Schilfes mit ihren gegabelten Schwänzen, voller Lebensenergie die Luft immer haarscharf über der Wasseroberfläche zerschneiden, um anschließend triumphierend nach oben zu entkommen.
Meinen Kopf leicht in den Nacken gelegt sehe ich ihnen zu und merke dadurch erst mit ein paar Sekunden Verzögerung, dass das Boot still an seiner Position verharrt. Er hat aufgehört zu rudern und sich einen Rucksack zu seinen Füßen gegriffen. Mit einem Griff in die Außentasche fördert er sowohl ein Päckchen Tabak als auch Blättchen hervor.
„Hast du´s eilig?“, fragt er, wobei ich mir nicht so ganz sicher bin, ob er sich von meiner Antwort in irgendeiner Weise beeinflussen lassen würde.
„Nein“, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich bin ja hier, um mir Zeit zu lassen. Einzig diesem Zweck dient mein Aufenthalt. Von mir aus auch gerne mitten im Schilf. Die Situation ist für mich sowieso schon so ungewöhnlich, dass ich mich von Anfang an entschlossen habe, mich ganz darauf einzulassen.
„Wenn ich auch eine haben darf?“, füge ich noch hinzu, denn alleine der Anblick des Tabakbeutels hat mein Suchtzentrum aufgeschreckt. Es meldet sich zu Wort und verlangt nach Beachtung.
Er reicht mir Tabak und Blättchen rüber und beobachtet, wie ich ungeschickt versuche, mir eine Zigarette auf meinem nackten Oberschenkel zu drehen. Ich war noch nie gut im Drehen, aber der Wind gibt meinen Bemühungen den letzten Rest.
„Ist ein guter Ort zu Rauchen.“, stellt er sachlich fest. Ich widerspreche nicht, gebe ihm Tabak und Blättchen zurück und deute gleichzeitig mit einer Handbewegung das Entzünden eines Feuerzeuges an. Er greift in die rechte Seitentasche seiner Jogginghose und reicht mir eines in schlichtem Hellblau. Ich nehme es entgegen und lasse das Feuer aus der Zündung schnippen. Da der Wind schonungslos an uns zerrt, reicht ein Versuch nicht aus. Erst beim dritten Mal gelingt es mir, das Zigarettenende zu entzünden. Schon lange habe ich keine Selbstgedrehte mehr geraucht. Meist katapultiert mich der Geschmack in ein konserviertes Gefühl aus einer anderen, vergangenen Zeit.
Während ich den ersten Zug einatme, schweift mein Blick zu seinen Händen, die routiniert den Tabak einrollen. Meine Augen wandern weiter und bleiben an einem der Tattoos hängen. Sofort beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Auf der Innenseite seines rechten Unterarmes erkenne ich in nur noch sehr schwacher Farbe das Bild eines Keltenkreuzes. Warum ich das jetzt erst sehe frage ich mich noch, dann spüre ich meinen Puls plötzlich so heftig, dass mir scheint, auch er müsse ihn hören. Und tatsächlich huscht sein Blick blitzschnell nach oben und registriert genau, wohin meine Augen gerade eben noch gerichtet waren. Er klemmt sich die fertige Kippe in den Mundwinkel, dreht die tätowierte Unterarminnenseite zu sich und betrachtet sie, ohne eine Miene zu verziehen. Dann nimmt er das Feuerzeug von mir entgegen, benutzt es und schaut mich direkt an. „Lange her.“
Ich beschließe, es dabei zu belassen. Die völlige Fremdheit zwischen uns und die Wucht der Geschichte, die hinter der Tätowierung lauern muss, stehen in keiner Relation zueinander. Ihn darauf anzusprechen kommt für mich deshalb nicht in Frage.
Schweigend ziehen wir an unseren Zigaretten und aschen neben das Boot ins Wasser. Ich lasse mich in die Beobachtung der Aschekörnchen, die augenblicklich nach ihrem Auftreffen auf der Wasseroberfläche von dem Sog der Flüssigkeit erfasst werden, gefangen nehmen und bin fast erschreckt, als ich ihn wieder sprechen höre.
„Warum zieht ihr nicht hierher?“
„Wie bitte?“
„Ihr seht glücklich aus, wenn ihr hier seid.“
Aufgrund meines nun wohl doch sehr fragenden Gesichtsausdruckes lässt er sich - fast widerwillig - auf eine Art Erklärung ein: „Ich wohne direkt an der Straße zum See. Jeder läuft irgendwann an meinem Fenster vorbei.“
„Naja“, ich zögere und nehme zuerst den letzten Zug meiner Zigarette. „Die Kinder gehen in Berlin zur Schule und wir arbeiten dort. Unser Leben ist dort.“
Es ist kaum der Bruchteil einer Sekunde, die er dazu nutzt, um seine Augenlider zu verengen und mich auf diese Art zu fokussieren. Sein Gesicht verrät mir nicht, was er von meiner Antwort hält, wohl aber der Klang seiner Stimme:
„Ach so, darauf hätte ich natürlich kommen können.“
Auf mich wirkt meine Antwort jetzt ebenfalls seltsam schal, obwohl ich sie schon oft gegeben habe – vor allem mir selbst. Erneut entschließe ich mich, nichts hinzuzufügen. Der Mann, dessen Namen ich immer noch nicht kenne und den ich bis vor 20 Minuten noch nie wahrgenommen habe, gibt mir so sehr das Gefühl, jeder Form von Unwahrheit augenblicklich auf die Schliche zu kommen, dass die Menge an Worten, die man an ihn richten kann, ohne durch seinen intensiven Blick enttarnt zu werden, sich zwangsläufig radikal reduziert.
Immer noch halte ich den Stummel der aufgerauchten Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand. Ich schaue fragend hoch. Auch er hat seinen letzten Zug inhaliert und den Zigarettenrest an der Innenseite der Bootswand ausgedrückt. Ich gehe fest davon aus, dass er nicht zu der Kategorie von Menschen gehört, die Müllreste, und seien sie auch noch so klein, in einen See schmeißen. Diese Gewissheit verwundert mich.
Wieder greift er in seine Hosentasche. Diesmal ist es eine kleine, rechteckige, silberne Dose, die er daraus hervorholt. Sie ist nicht größer als seine Handinnenfläche und trägt die Initialen M.K. in feiner Gravur auf ihrem Deckel. Sie wirkt zwar alt, aber nicht abgegriffen oder beschädigt. Eher so, als hätte man sie behutsam behandelt und auf sie geachtet. Er nimmt den Deckel ab und legt seinen Zigarettenstummel neben zwei andere, die sich bereits darin befinden. Ich schließe mich an und nehme die Dose samt Deckel aus seiner Hand. Nachdem ich den Deckel wieder verschlossen habe betrachte ich sie näher.
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