„M.K.?“
„Manfred Kursawe“, antwortet er ohne zu zögern.
„Sind Sie das?“
„Nein, das ist mein Vater. Ich heiße Maik.“
„Ich bin Lina.“ Ich strecke ihm meine Hand entgegen. Er ergreift sie mit festem, verbindlichem Druck. Einen Moment lang verharren wir so, dann lösen wir unsere Hände wieder und er greift nach den Rudern.
Während er das Boot geschickt die letzten Meter durch das Schilf lenkt und dabei leicht schräg über seine Schulter nach hinten schaut, beobachte ich ihn. Ich tue dies nicht verstohlen sondern direkt. Eine andere Art erschiene mir bei ihm unangebracht.
Ich suche auf seinen Armen nach weiteren Tattoos, die mir ähnlich vertraut sind wie das Kreuz, aber auf die Schnelle erkenne ich nichts vergleichbar eindeutiges zwischen den zahlreichen, mal mehr oder weniger verblassten Bildern, deren Bedeutung sich mir allerdings auch nicht bei allen gleich erschließt.
Plötzlich reißen mich zwei Ereignisse gleichzeitig aus meinen Gedanken. Kalte, harte Tropfen schlagen auf meinen Oberschenkeln, Schultern und im Nacken auf und im selben Moment setzt das Boot mit einem leichten Ruck am Ufer auf. Es scheint, als hätte der Regen mit vornehmer Zurückhaltung darauf gewartet, uns unsere Zigaretten zu Ende rauchen zu lassen. Aber jetzt kennt er kein Erbarmen mehr. Das hier ist kein langsames Rantasten – das ist eine klare Ansage. Viel Kleidung habe ich mit Badeanzug und T-Shirt sowieso nicht an – aber diese ist sofort komplett durchnässt.
Allerdings bringt auch dieser Regensturz meinen Begleiter nicht aus der Ruhe. Ohne jegliches Anzeichen von Beschleunigung steigt er aus und lässt sich von mir das Brett, das ich am Bauch des Bootes vorbei nach vorne ziehe, anreichen. Mit einem Griff hebt er es aus dem Wasser und legt es, fachmännisch mit der Unterseite nach oben, um die Finne nicht zu beschädigen, am Ufer ab. Ich greife mir das Paddel sowie seinen Rucksack und wate damit den kurzen Weg durchs Wasser ans Ufer. Die Kälte des Wassers setzt mir sowohl unten als auch oben mit schmerzenden Stichen zu, der Wind treibt die gefühlte Temperatur zusätzlich runter. Trotzdem bleibe ich in seinem Tempo. Unsere Bewegungen haben sich inzwischen so angeglichen, dass wir keine Worte benötigen, um die Handgriffe gemeinsam zu erledigen, die getan werden müssen, um Boot und Ruder an ihrem Anlegeplatz zu sichern.
Ich habe mich daran gewöhnt, dass es hier keine offiziellen Anlegestellen gibt. Jeder Bootsbesitzer hat sich im Laufe der Zeit seinen eigenen Platz gesucht und entsprechend präpariert. Auch Maiks Boot lässt sich an einem eigens dafür in die Erde geschlagenen Pflog festbinden. Durch die Lage mitten im Schilf sind umfassendere Sicherungsmaßnahmen nicht notwendig. Während Maik sich das Brett greift, übernehme ich weiterhin den Transport von Paddel und Rucksack. Schweigend gehen wir nebeneinander am Ufer entlang, bis wir auf den Weg treffen, der vom Hundestrand ab in Richtung Dorf führt. Wir biegen auf diesen Kiesweg ein und nehmen auf ihm die leichte Anhöhe, die den See vom Ort trennt. Da ich barfuß bin und Maik Badelatschen trägt, ist er zwar im Vorteil, verlangsamt seine Schritte allerdings sofort, als er bemerkt, dass ich zurückfalle. So bleiben wir dicht beieinander und es stellt sich in mir das beruhigende Gefühl ein, die Kälte und Nässe nicht alleine aushalten zu müssen. Was für Herdentiere wir doch sind, fährt es mir unvermittelt durch den Kopf und ich muss lächeln.
Ich spüre, dass der Mann neben mir mein Lächeln bemerkt hat. Seine Reaktion ist ein kaum merkliches Kopfschütteln.
„Ihr seid schon ein komisches Völkchen.“
Diesmal weiß ich, was er meint. „Du meinst uns Buletten?“ Der Wechsel vom Sie zum Du scheint mir an dieser Stelle selbstverständlich, fast hätte ich ihn selbst nicht einmal wahrgenommen.
„Kommt hierher, mit euren Brettern, fahrt raus, wenn sich gerade ein Gewitter anbahnt, behaltet eure Richtung nicht im Blick und lauft dann lächelnd durch Sturm und Regen nach Hause.“
Ich betrachte ihn von der Seite, um zu überprüfen, ob das verschmitzte Lächeln, das in seiner Stimme mitschwingt, auch in seinem Gesicht zu entdecken ist. Fehlanzeige.
Seine Schritte werden langsamer, um schließlich vor einem der Häuser auf der linken Seite ganz zum Stehen zu kommen. Ich bin mir nicht bewusst, ob ich es bereits einmal zur Kenntnis genommen habe. Im Zweifel eher nicht. Das Nachbarhaus daneben, das schon seit Jahren leer steht und immer mehr verwildert, hat meine Aufmerksamkeit bisher eher auf sich gezogen.
Maik lässt das Brett zu Boden sinken und lehnt es gegen mein Bein. Dann streckt er mir seine Hand entgegen und ich lasse den Rucksack von meinem Rücken gleiten. Er nimmt ihn entgegen, geht ein paar Schritte in Richtung Hauseingang, legt den Rucksack vor der Tür ab, um daraufhin zurück zu mir und dem Brett zu kommen. Als er es aufnimmt und weitergeht, unterlasse ich die sonst üblichen Abwehrhöflichkeitsfloskeln. Ich bin im Moment einfach nur dankbar, dass er mir das Brett offensichtlich bis vor die Haustür tragen wird. Soll er, es ist schwer genug.
Die Entfernung von seinem zu meinem Haus ist nicht weit – wir wohnen beide auf der Dorfseite, wo die Häuser sich im Besitz der Bewohner befinden. Auf der anderen Seite prägen überwiegend Mehrfamilienhäuser, in denen zur Miete gewohnt wird, das Dorfbild. Man sieht den Unterschied nicht sofort, so gravierend ist er nicht. Aber er ist da.
Wir sind angekommen. Maik bleibt stehen und hebt fragend die Augenbrauen. Ich gehe voraus, durch das Gartentor in Richtung des Nebengebäudes. Mit dem Schlüssel, den ich hier draußen immer an einem langen Band um den Hals trage, öffne ich das Vorhängeschloss der mittleren Tür und halte sie offen. Maik ist mir gefolgt und trägt das Brett an mir vorbei in den Raum, der als Lagerfläche für Gartengeräte, Rasenmäher und anderem mehr oder weniger Notwendigem dient. Er lehnt das Brett vorsichtig an die noch freie Seite des Raumes und entfernt die Finne aus ihrer Verankerung. Während ich gleichzeitig das Paddel an den dafür vorgesehenen Hacken hänge, berührt mich die Umsichtigkeit, die er schon seit meiner Karambolage mit seinem Boot an den Tag legt. Er tritt in den Garten und reicht mir die Finne. Immer noch regnet es heftig, aber ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt und empfinde den Regen im Vergleich zum schmerzenden Wind fast als wärmend.
„Hast du noch Zeit für eine Zigarette?“ Ich weiß, dass er den Tabak und die Blättchen nicht zurück in den Rucksack gesteckt hat, sondern zusammen mit dem Feuerzeug in seine ausgeleierte Hosentasche.
„Du lädst mich ein?“, fragt er zurück.
Mir entfährt ein Lachen.
„Entschuldige die unklare Frage, ich präzisiere: Hast du noch eine Zigarette für mich?“
„Schnorren könnt ihr ja, das muss man euch lassen.“
Nebeneinander steigen wir die Steinstufen unseres Eingangsvorsprungs hoch und stellen uns unter das Vordach. Maik holt den Plastikbeutel hervor, in dem sich der Tabak befindet. Auch die Blättchen hat er darin verstaut, sie sind auf diese Art geschützt tatsächlich trocken geblieben. Schweigend drehen wir uns unsere Zigaretten und zünden sie an. Beide lehnen wir unsere Oberkörper auf das Geländer vor uns.
Es ist Maik, der das Wort ergreift: „Ihr wollt nicht, dass eure Kinder unter uns aufwachsen. Deshalb zieht ihr nicht her.“ Seine Worte treffen mich unvorbereitet, auch wenn sie mich nicht überraschen. Ich brauche ein paar Sekunden, bevor ich zu einer Erwiderung finde. „Wahrscheinlich hast du Recht.“
Schweigend rauchen wir unsere Zigaretten zu Ende. Als wir beide unsere Kippen ausgedrückt haben, strecke ich ihm erneut meine Hand entgegen. „Danke für die Hilfe.“
„Bitte.“
Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und verschwindet in der Dunkelheit. Auf einmal wird mir kalt.
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